Wir haben auch das letzte Fünkchen Menschlichkeit verloren
Die Worte der Ärzte, die bei den letzten
Anlandungen in Palermo, Trapani und Agrigent anwesend waren, sind eindeutig und
lassen keinen Zweifel an den Grausamkeiten, die tausende von Menschen auf ihrem
Weg nach Europa erlitten haben.
In Palermo sind 780 Personen angekommen, alle sehr jung, einige noch ganz klein, darunter 5 Kinder aus Eritrea im Alter von 10-13 Jahren, alleine unterwegs. Letztendlich haben sich viele Minderjährige für volljährig erklärt, damit sie die Reise im Reisebus fortsetzen können; die Autobusse kommen aus Rumänien, aber nicht etwa wegen der Aufschlüsselung der Phantomquoten zwischen den verschiedenen europäischen Ländern, sondern weil die Firma Atlassib aus Rumänien die neue Ausschreibung der Präfektur für die Verlegungstransporte gewonnen hat.
Am vergangenen Wochenende
sind mehr als 5000 Menschen angekommen, vor allem aus Eritrea, Syrien, Nigeria,
Ghana, Afghanistan: Alle diese Menschen sind aus einer Situation des Krieges, des
Elends oder der Vernachlässigung geflüchtet; und sie haben in Libyen das
gleiche Schicksal erlitten: Gewalttätige Übergriffe, Tätlichkeiten, Diebstahl,
Folter und Tod. Der Tod liegt in diesen Situationen immer auf der Lauer, und
auch gestern ist eine Frau gestorben, bevor sie von dem Schiff „CORSI“ der
Küstenwache gerettet werden konnte; die Frau starb unter den Augen des
Ehemannes und der Schwester, die mit diesem Schmerz, der nicht vergeht,
weiterleben müssen; einem Schmerz, der noch heftiger wird, falls die Frau, wie
der Ehemann berichtet, wirklich schwanger war. Europa hat sich, ebenfalls gestern,
mit zwei weiteren grässlichen Vergehen beschmutzt; diese werden mit der Zustimmung
aller totgeschwiegen, kein Fotograf konnte diesen Mord festhalten.
Der Ehemann und die
Schwester sind zusammen mit weiteren 370 Migranten in das Zentrum zur weiteren
Verteilung in Siculania, Villa Sikania, verlegt worden. Dieses hat eine
Aufnahmekapazität von wenig mehr als 200 Personen und ist daher aktuell
überfüllt. Wenn es der Präfektur gelingt, Reisebusse für die Verlegung zu
beschaffen, werden sie innerhalb von 48 Stunden in den Norden verlegt.
In Trapani sind die
Migranten angekommen, die von der „DIGNITY I“, dem Schiff von „Ärzte ohne
Grenzen“, gerettet wurden, 380 Frauen, Männer und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Auch bei dieser Anlandung wurden 15 Personen sofort ins Krankenhaus gebracht:
Zeichen, der immer offensichtlicher werdenden Schwierigkeiten, die mit dieser
Reise verbunden sind. Alle sind auf Reisebusse verteilt worden, um in Richtung
der Zentren in der Lombardei, Toskana, Emilia Romagna, Veneto, oder in die Marken
aufzubrechen; nur gut hundert sind auf Sizilien geblieben, zwischen Messina und
dem Megazentrum von Badiagrande in Valderisce, das ein Fassungsvermögen von 200
Personen hat.
Trapani bestätigt einmal
mehr seinen Ruf als Königin der Aufnahme mit seinen fast 3000 Migranten, die in
den Zentren beherbergt werden; von diesen sind zur Zeit sehr viele auf den Feldern
der Provinz beschäftigt, in der Weinlese und bald in der Olivenernte. Migranten
kommen aus ganz Italien und geben den Landbesitzern vermehrt die Möglichkeit, durch
die Nutzung ihrer Arbeitskraft die Preise zu drücken.
Trapani hat aus dem CIE*
noch keinen Hotspot gemacht; in dieser Einrichtung befinden sich mehr als hundert
Menschen aus dem Maghreb, die dort seit mehr als einem Monat unter prekären
hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen eingeschlossen sind; so wird es
von Delegationen, bestehend aus einigen Parlamentariern und Mitgliederns der
Kampagne „LasciateCIEntrare“ (Lasst uns rein“), bezeugt.
Die andere Neuigkeit bei der
Anlandung in Palermo ist die, dass auch die Ausgabe der Lebensmitteltüte in
Zukunft nicht mehr kostenlos von der Caritas verwaltet wird, sondern von einer
Gruppe CONAD** aus Palermo. Die Freiwilligen der Caritas kümmern sich aufgrund
ihrer Erfahrung bis auf weiteres um die Verteilung. Was T-Shirts, Schuhe und
Hosen angeht, so ist auch in Palermo die Firma PlaySport aus Syrakus
ausgebootet worden; diese Firma war auf dem Gebiet der Verteilung an die
Anlandenden schon länger dabei (z.B. in Pozzallo, aber nicht nur dort). So hat
sich auch Palermo, für das Menschlichkeit ein Kennzeichen war, in einen Markt
verwandelt, – wie vom System gefordert. Offensichtlich hat sich die Präfektur
in dem Augenblick umgestellt, als die Caritas die Verteilung von Essen und
Kleidung nicht weiter fortführen konnte.
Eine Menschlichkeit, die
viele Betreiber von Wohngemeinschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
nicht haben; man bemerkt es, wenn man sieht, mit welcher Kaltherzigkeit sie in
den Hafen gehen und ihre „Ware“ an Land ziehen; und leider macht dies den Weg
dieser Jugendlichen immer komplizierter; sie kommen in Einrichtungen, die oft
nicht fertig sind, in der niemand die Sprache spricht und in der die
Verantwortlichen Kasernenregeln aufstellen, um die Ordnung aufrecht zu halten.
Während einer unserer vielen Rundreisen vergangene Woche (angesichts der
Tatsache, dass sich die Klagen und Meldungen über atypisches Verhalten mehren)
haben wir ein Regelwerk bemerkt, in dem das Verb „must“ (dt. „müssen“) das
meistgenutzte war, um die Verhaltensregeln klarzumachen, die einzuhaltend seien.
Mögliche Konsequenzen beim
Übertreten der Regeln, so wurde uns erzählt, ist das Einbehalten des
Taschengeldes oder psychologische Erpressung. Das geschieht auch in Zentren mit
hoher Spezialisierung in der Region, in denen die hohe Qualität der Dienste
garantiert sein müsste. Dagegen werden die Kritikpunkte bei San Giovanni
Gemini, das zeitweise zu Trabia gehörte und bei Alcamo endete, immer
zahlreicher.
Folge ist die Flucht der
Minderjährigen, die wir in den Straßen um den Bahnhof wiederfinden, wo sie
unter einer Brücke, Säulengängen oder in Gärten schlafen; sie hauen ab, weil
niemand in der Lage ist, ihnen zu erklären, was, wie und wie lange sie in den
Wohngemeinschaften bleiben müssen und warum.
Ein 16jähriger Junge aus
Eritrea hat kein Blatt vor den Mund genommen und uns erzählt, dass er in Libyen
vergewaltigt und auch mit Strom gefoltert wurde; und erst nachdem seine Eltern
das Lösegeld geschickt hatten, ist er freigelassen worden; mit anderen seiner
Gefährten im Unglück war das Schicksal nicht so gnädig. „Ich will zu meinem
Cousin nach Mailand und ich werde alles dransetzen, dass ich nicht auf der
Strecke bleibe; meine Eltern haben ihr Leben für mich und für meine Freiheit gegeben,
und ich will sie nicht enttäuschen; ich darf nicht versagen, ich will wie ein
Jugendlicher in meinem Alter leben; ich will nicht jede Nacht aufwachen und
weinen mit der Angst, die dich begleitet und dich nicht gehen lässt, ich bin
müde und noch so jung. Seit 3 Monaten bin ich im Lager und tue nichts, ich
schlafe, ich esse und ich habe keine Papiere und so mache ich jetzt mein Ding;
ich habe einen Freund getroffen.“
Wir haben ihm weitere Fragen
gestellt, wie vielen anderen. Die Wahrnehmung ist: Es gibt keine Klarheit, keine
Mediation, keine Unterstützung, keinen Schutz (und in vielen Fällen auch keinen
Beschützer). Deshalb, wegen der Unfähigkeit der Aufnahme, machen sich viele
andere, wie unser junger Freund aus Eritrea, aus dem Staub. Wahrscheinlich wird
auch er sich Männern anvertrauen, die die Möglichkeiten ausnutzen, die Europa
ihnen schenkt; das heißt, sie werden Kapital schlagen aus der Hoffnung dieser
Jugendlichen.
Im Grunde verstehen wir die unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge gut, die sich als Erwachsene ausgeben; wenigstens haben
sie bei den Rumänen eine Mitfahrgelegenheit bis zum Norden; und so ist es
leichter am Ziel anzukommen, anstatt auf der Straße zu enden und das letzte Fünkchen
Menschlichkeit zu suchen, das irgendjemandem geblieben sein könnte!
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CIE – Zentrum zur
Identifikation und Ausweisung
**CONAD – Zusammenschluss
von ca. 3000 Einzelhändlern und Geschäftsgruppen
Aus dem Italienischen von
Rainer Grüber