„Ragazzi fuori“

Es ist nicht nur der Titel des berühmten Films von Marco Risi, sondern so sieht auch die Situation sehr vieler junger Männer und Frauen aus, die an unseren Küsten ankommen oder seit sehr
langer Zeit in den außerordentlichen Aufnahmezentren untergebracht sind.
Letzte Woche haben wir vier dieser außerordentlichen Aufnahmezentren besucht und Bewohner*innen zweier Zentren für Minderjährige getroffen.


Foto: Alberto Biondo

Uns haben mehrere Menschen aus dem Zentrum in der Via Monfenera (geführt von der Kooperative Asante) in Palermo kontaktiert, aus dem Zentrum von Portocello (der neuen
Sozialkooperative Azzurra) und aus dem Zentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Salemi (geführt von Faro). Alle Bewohner*innen beschweren sich, keine angemessenen
Antworten auf ihre Fragen zu bekommen und, dass viel zu viel Zeit in den Zentren verbracht wird, wo sie den ganzen Tag nur schlafen. Für Hassan (Name frei erfunden) ist das, als ob sie wie
Schafe auf eine Weide gelassen würden, allerdings ohne Schäfer. Seit sechs Monaten sind sie nun in Italien, ohne Tutor*in und dafür dem Risiko ausgesetzt, „die verlorene Zeit“ wirklich zu
verlieren, denn viele werden bald 18….“ragazzi fuori“ – „Jungs und Mädels, raus aus dem Nest“.

Denn wer in einem Erstaufnahmelager oder einer Notunterkunft volljährig wird, der*die wird, sofern Asylbeantragende*r, in ein außerordentliches Aufnahmezentrum für Erwachsene übermittelt,
wo dann eine neuer Lauf durch die Bürokratie beginnt. Aber auch wenn man das Glück hat einer Aufnahmestelle für unbegleitete minderjährige Geflüchtete zugewiesen zu werden, wird man
ungerechterweise bei Vollendung des 18. Lebensjahres wieder hinausgeworfen, selbst wenn man Ayslsuchende*r, oder ohne ein Netz an Kontakten zu Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten, ist.
Und das wegen Verspätungen bei der Überweisung der finanziellen Mittel des Ministeriums an die Betreiber der Zentren über die Kommunen, die sich in katastrophalen Finanzlagen befinden.

Diese Situation führt offensichtlich dazu, dass viele abhauen und ihr Schicksal weiter herausfordern und, dass dem Netz an Schleusern in unseren Städten neue Kund*innen geboten werden,
eben wegen der Umstände der Nicht-Aufnahme….auch hier: “ragazzi fuori“.

Wir waren in den Zentren „Terraferma“, “Siciliabedda“ und „Villa Mokarta“ in Salemi, wo wir gemeinsam mit den Bewohner*innen das Fastenbrechen des Ramadan feierten. Für einen Tag oder
immerhin für einen Moment haben diese Menschen die Leiden des ewigen Wartens auf eine ungewisse Zukunft vergessen können. In den drei Zentren befinden sich 250 Migrant*innen, fast alle
sind 2014 nach Salami übergesiedelt worden, alle sind Asylbewerber*innen und haben eine Ablehnung von der Territorialkommission bekommen und die Möglichkeit auf gerichtliche Berufung.
Viele werden wohl bald die Ablehnung der Gerichtsanträge erhalten … weitere „ragazzi fuori“.

Wie kann man ein System auf solch eine Weise konzipieren, einen Container, in dem man Menschen zusammenhäuft, denen man auch noch alles nimmt (Hoffnung, Perspektiven), und denen
man nichts gibt (individuelle Programme für soziale und berufliche Inklusion, eine Zukunft) und die nach zwei Jahren des „Nichts“ (trotz des Engagements einiger Angestellter) auf die Straße
gesetzt werden und zwar in einer Gesellschaft, die sofort bereit ist Dich zu etikettieren und oft auch, Dich auszunutzen?! Und wieder „ragazzi fuori“, die als Unsichtbare leben werden.

Foto: Alberto Biondo

Dies ist die Geschichte vieler Bewohner*innen des CAS (außerordentliches Aufnahmezentrum) von Piano Torre in Isnello. Ein gemeinsames Schicksal für viele. Gemeinsam erleiden sie auch die Gepflogenheit, Minderjährige von 17
Jahren in Zentren für Erwachsene unterzubringen, wo sie auf ihre Volljährigkeit warten müssen, um dann mit vollem Effekt ihren Aufenthalt im CAS zu formalisieren. Es sind illegitime Praktiken,
verkleidet als Notzustände innerhalb eines gescheiterten Systems.

Aber die illegitimen oder irregulären Praktiken zählt man schon gar nicht mehr. In der Provinz von Trapani wird ein beschleunigter Amtsweg beim Widerruf von Aufnahmen registriert,
wahrscheinlich, um verfügbare Plätze zurückzugewinnen, während uns aus den restlichen Teilen Ostsiziliens Meldungen über besonders Schutzbedürftige mit hauptsächlich psychischen Problemen erreichen. Sie werden von den SPRAR*, denen sie vom Zentraldienst zugewiesen wurden, abgelehnt, mit der extrem schwerwiegenden Konsequenz, die Möglichkeit auf Erstaufnahme in den
CAS zu verlieren und somit auf der Straße zu enden, auf einer Bank zu schlafen und zu betteln. Inhumane Dynamiken in einem inhumanen System.

Es ist ein System, das Aufnahmeeinrichtungen mit sich bringt, die immer weiter weg von den bewohnten Zentren gelegen sind, wie jene von Piano Torre, auf den Madonien, wo sich die
Bewohner*innen innerhalb der riesigen Räume des CAS „frei“ bewegen, aber alle sagen, dass sie selbst fürchterlich darunter leiden, keinen Kontakt außer zu den Mitarbeiter*innen zu haben.
Das Ministerium sieht vor, dass in den CAS dutzende Menschen zusammengehäuft werden und leitet an den Betreiber die Aufgabe zur Ausführung ohne finanzielle Mittel weiter, in Anbetracht
der Tatsache, dass beispielsweise die Präfektur von Trapani nicht das notwendige Personal hat, den Transfer der staatlichen Unterstützungen zu erledigen und deshalb mit den Zahlungen
sieben Monate hinterher ist.

Die Präfektur von Palermo hat das Zentrum von Piano Torre geschlossen und wieder geöffnet und dabei dem Besitzer direkt die Leitung anvertraut (davor war es unter der Führung der
Kooperative Scarabeo), ohne jedoch die möglichen finanziellen Löcher mit einzuberechnen, die es bereits belasten. Das Zentrum – genehmigt sind 47 Plätze – beherbergt heute 75 Personen (die
letzten Ankömmlinge gehörten zum angekommenen Schiff der letzten Woche), die dem Betreiber von der Präfektur Palermo als Notfälle zugewiesen wurden wie Postpakete. Aber trotz der
Schwierigkeiten und der Entfernung zu Palermo verlassen die Bewohner*innen auch Piano Torre und erhören somit die Zahl der „ragazzi fuori“.

Zuletzt haben wir Meldungen über die Entlassung von Jugendlichen mit extremen Problemen aus Krankenhäusern der Provinz Palermo bekommen, die dann unter absoluter Vernachlässigung
den Aufnahmezentren zugewiesen wurden. Personen mit Herzproblemen, Amputationen, psychischen Störungen, entlassen ohne die Garantie für eine angemessene Nachversorgung, die wir
für die Schutzorganisationen dokumentieren, damit nötige Kontrollen getätigt werden. Und wieder einmal „ragazzi fuori“.

Alberto Biondo

Borderline Sicilia

*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge

Übersetzung aus dem Italienischen von Sophia Bäurle