Missbraucht

„Man kann doch im Jahr 2018 nicht ohne Wasser leben, es ist eine Schande; sogar in Afrika haben sie jeden Tag Wasser, wir sind ein Land der dritten Welt, wir müssen uns schämen“ und weiter: „Wir haben schmutzige Bäder, wir können uns nicht einmal die Zähne putzen“, „mit all dem Wasser, das in diesen Tagen vom Himmel geregnet ist, sind wir nicht in der Lage, an jeden Bürger ein bisschen Wasser zu verteilen wie es gerecht wäre“, und es darf offensichtlich nicht fehlen: „Die Schuld liegt bei den Migrant*innen, die das Wasser verschwenden und es wird nicht erklärt, warum es in den Zentren, in denen sie wohnen, nie an Wasser mangelt.“

Hier möchten wir starten, bei den Kommentaren der Menschen, die vor einem Brunnen in Palermo Schlange stehen, ihn regelrecht überfallen; die Stadt hat unter den Schwierigkeiten gelitten, die durch den Regen der letzten Tage verursacht wurden; das Unwetter hat Tod und Unbehagen verursacht. Wir vergessen hier schnell die Menschen, die gestorben sind; wir sind nur um unser kleines Gärtchen besorgt und darum, irgendjemandem die Schuld zu geben, wie es die Politiker*innen tun, die die Schuld an jedem Debakel, das Italien zustößt, den Fremden aufhalsen und uns das Gefühl vermitteln Betrogene, Missbrauchte und aufs Korn Genommene zu sein.

Das politische Klima, das wir erleben, ist von der Wirklichkeit total losgelöst. Es schafft Monster, Leute, die sich autorisiert fühlen, Hassparolen zu schreien, und die Folge ist der Gipfel gewalttätiger Aggressionen gegenüber den Migrant*innen.

Ein politisches Klima, das, über Missbrauch hinaus, durch verfassungswidrige Gesetze hervorsticht. Diese schaffen einzig und allein Menschen, die immer unsichtbarer und ausbeutbarer werden; ihre Rechte werden systematisch zur Strecke gebracht. In diesem Klima entstehen und wuchern die ungesetzlichen Praktiken der Präfekturen und Quästuren, die sich in gewisser Weise von der Regierung „gedeckt“ fühlen.

Und in dieser Zeit des Wartens auf die Schicksale (die gleichwohl schon geschrieben sind), die das Sicherheitsdekret verursacht, haben viele Quästuren in Erwartung der Weisung des Ministeriums alles blockiert und viele Verwaltungsgesellschaften spekulieren auf dieses Durcheinander und säen Panik.

Nicht selten hört man, dass Asylsuchende sagen: „Sie haben mir gesagt, dass der Minister uns nicht will und uns keine Aufenthaltserlaubnis geben wird; deshalb ist es besser wegzugehen bevor er uns abholt und uns zurückschickt; darum bin ich abgehauen.“

Und der Bedarf an Psycholog*innen in den Zentren wächst, weil Angstzustände und Depressionen bei den Personen, die schon über die Maßen geprüft und missbraucht worden sind, zunehmen.

Kulturlosigkeit, Vorurteil und Unmenschlichkeit sind die Worte, die die Migrant*innen am eigenen Leib erfahren. Kulturlosigkeit kann man auch an dem Schreiben ermessen, das von der Verantwortlichen des Zentralen Dienstes am 25. Oktober herausgegeben wurde. Dieses unterstreicht, dass in Anwendung dessen, was von *dl 113/18 angeordnet wird, der Zentrale Dienst nicht mehr wird fortfahren können, Asylsuchende und Inhaber*innen eines humanitären Schutzstatus, auch wenn sie besonders schutzbedürftig sind, in SPRAR* zu weisen.

Was sind wir bloß für ein Land geworden?
Ein Land, das nicht nur Menschen auf der Flucht nicht mehr ankommen und in der Wüste, in den Lagern in Libyen und auf dem Meer sterben lässt, sondern das auch die jungen Leute, die nicht die Möglichkeit haben in diesem Land zu wachsen, dazu veranlasst abzuhauen. 114.000 Italiener*innen sind im Jahr 2017 ins Ausland gegangen, dem gegenüber stehen 26.000 Ankünfte. Ein Italien, das immer ängstlicher, älter und dekadenter wird.

Und die Kulturlosigkeit eines Landes bemisst sich auch an dem fehlenden Respekt gegenüber den Toten, wie wir es vor einigen Tagen auf dem Friedhof Rotoli di Palermo gesehen haben. Dort gleicht das Feld 220 (auf dem die Migrant*innen beerdigt sind, die bei Schiffbrüchen gestorben sind) eher einem Kartoffelacker als einem Bestattungsfeld. Und es sind so viele Tote, die nicht einmal einen Namen haben!

Wem es gelingt anzukommen (unter dem Schweigen der Medien) wird auf Lampedusa in einem Zentrum festgehalten, dessen juristischer Status unklar ist, um dann nach Porto Empedocle transportiert und um von dort ins CPR* von Milo oder an andere Orte der Gefangenschaft und der Abgeschiedenheit gebracht zu werden. Es sind wenige, ganz wenige Personen, die in ein CAS* verlegt werden. So wenige, dass sich die Zahl in allen Provinzen Siziliens in konstantem Rückgang befindet.

Vor kurzem haben wir Lamin (Name erfunden) getroffen, einen der Jugendlichen, die Opfer der gewalttätigen rassistischen italienischen Politik geworden sind: Eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen in der Hand und seit Monaten keine Antwort vom SPRAR*. Folglich gibt es für ihn, wie in anderen, ähnlichen Situationen, nur die Straße, ohne Bezugspunkte, ohne Geld, nur mit einem Handy, um mit der Mutter in Kontakt zu bleiben. Das Handy wurde ihm von einem „mutigen“ Mann geklaut, der es ihm entwendet hat, während er auf der Straße schlief. Lamin ist einer der so vielen vom System Missbrauchten, ein Opfer der schweigenden Stille einer Gesellschaft, die nicht mehr die Kraft und den Mut hat, gegen alle gewalttätigen Übergriffe einer inhumanen Politik zu rebellieren. Einer Politik, die nur daran denkt, Privilegien für Wenige zu schaffen und Hass und Armut für so viele.

„Jetzt habt ihr mir wirklich alles genommen, mein Leben hat keinen Sinn mehr, was habe ich Schlechtes getan? … die letzten Worte von Lamin vor dem Schweigen und den Tränen der Verzweiflung!

 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

*dl 113/18 – decreto legge 113/18 – gesetzesvertretender Erlass zur Aufenthaltserlaubnis: das Sicherheitsdekret
*SPRAR (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati): Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), soll zur Integration dienen
*CPR (Centri di Permanenza per i Rimpatri): Abschiebezentren
*CAS (Centro di accoglienza straordinaria): Außerordentliches Aufnahmezentrum

Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber