Machen wir den Computer aus und schalten das Gehirn ein!
Eine Regierung, die Menschen ins Visier nimmt, ist unmenschlich und gewalttätig.
Ein Europa, das sich als offen bezeichnet, aber tatsächlich tötet, symbolisiert den Niedergang unserer Gesellschaft. Das Abschlachten der Migrant*innen geht weiter, und verschont niemanden, nicht einmal Kinder.
Eine der letzten heftigen Taten von ebendiesem Europa sind die 15 vor Libyen verstorbenen Migrant*innen, welche nicht wie so viele weitere ertrunken sind. Stattdessen verloren sie einen langsamen Todeskampf gegen Hunger und Durst, ohne überhaupt von den Wellen des Meeres verschluckt zu werden. Weitere 15 Menschen wurden Opfer dieses Systems: die Überlebenden haben von diesem Horror berichtet, nachdem sie von der libyschen Küstenwache entdeckt und zurückgebracht wurden.
Während das Meer ohne Pause, wie vom Roten Halbmond gemeldet, unzählige Leichen an die libyschen Strände zurückspült, informiert die NGO Watch The Med weiterhin vergebens über Boote in Schwierigkeiten, die mitunter aus der libyschen Hölle entfliehen. Sie verlieren sich im Meer, ohne dass ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das letzte Boot hatte 54 Menschen an Bord, 4 davon waren Frauen. Von ihnen gibt es seit dem 13. Januar kein Lebenszeichen mehr.
In Libyen finden weiterhin Freiheitsberaubungen und willkürliche Verhaftungen in Zentren offizieller und inoffizieller Art statt, sowie sexuelle Missbrauchsfälle, Entführungen und Lösegeldforderungen, Erpressungen, Zwangsarbeit und Mord. Und das hier sind nicht bloß die Worte eines Gutmenschen, sondern sind die Ergebnisse des UN-Berichts über Libyen. Und wir finanzieren und unterstützen diese Zustände weiterhin, zusätzlich zu den Geschäften, die wir gemeinsam mit den anderen europäischen Regierungen machen.
Die unmenschliche Politik hat alle Personen und Vereine entfernt, die Leben retteten und zugleich auch unbequeme Zeug*innen davon waren, was auf See passiert. Der auch von den Staatsanwaltschaften unterstütze schmutzige Krieg gegen die NGOs hat einen weiteren gerichtlichen Widerrufsbeschluss des Berufungsgerichts von Catania geerntet. Die Staatsanwaltschaft Catania hatte eine Beschlagnahmung vorgenommen, die nun annulliert wurde. Es ging um den Fall von MSF (Ärzte ohne Grenzen), denen die rechtswidrige Entsorgung von Abfallstoffen vorgeworfen wurde.
Das letzte Kapitel der beschämenden Farce der Kriminalisierung von NGOs ist die Auslaufsperre des Schiffs der Open Arms von Seiten der spanischen Regierung.
Und leider finden diese Horrorszenarien nicht bloß auf See statt: gestern wurde der Tod von 15 syrischen Kindern bekannt gemacht, welche in einem der 66 Camps für geflüchtete Menschen zwischen Syrien und dem Libanon lebten. Sie wurden vom Schnee erfasst und von den eisigen Stürmen überwältigt. 15 Kinder, die erfroren sind nach einem Krieg, in den auch der Westen involviert ist, in dem wir ihnen das Zuhause, die Städte, einfach alles zerstört haben.
Ein Freund von uns, ein 17-jähriger Junge aus Gambia, einer der Leute die es geschafft hatten lebendig anzukommen, ist hier gestorben, nachdem er kurz vor Weihnachten von einem Auto mit anschließender Fahrerflucht angefahren wurde, während er versuchte sein Integrationsprojekt voranzubringen. Alanso ist nach fast einem Monat Todesqualen verstorben, im Krankenhaus Villa Sofia in Palermo. Die Leiterin des Zentrums, in dem er lebte, erzählte uns im Krankenhaus: „Er war ein zerbrechlicher Junge mit einer guten Seele und hatte ein großes Herz….Sympathisch, gesellig und freundlich…Er wusste was Dankbarkeit heißt und wusste diese auch in den kleinsten Gesten auszudrücken.“ Er konnte sein Ziel, Torwart zu werden, nicht erfüllen. Er sagte zur Leiterin des Zentrums: „Loretta, eines Tages werde ich ein bekannter Torwart und alle werden mich Alanso nennen, nicht S., was mein Nachname ist, sondern Alanso, weil Alanso gibt es nur ein einziges Mal…und meine Nummer ist nicht die 1 oder 11, sondern die 21, ja….auf meinem Trikot wird ALANSO 21 geschrieben stehen“.
Das Sicherheitsdekret, das inzwischen in ein Gesetz umgewandelt wurde, sowie die vom Innenministerium aktualisierten Bedingungen für die Ausschreibung von Aufnahmezentren gleichen einem Henkerbeil für die Menschenrechte. Die Bedingungen sind ein Geschenk für diejenigen, die bereits im Aufnahmebusiness Geschäfte machen, und verfolgen das Ziel, neue Lager für Menschen einzurichten, in denen 50 bis 300 oder noch mehr Bewohner*innen Platz finden sollen. Der Betreiber muss die Asylsuchenden aufnehmen und ihnen zu Essen und Trinken geben. Keine zusätzlichen Dienstleistungen sind vorgesehen, beispielsweise wurden die Gelder für Mediations- und Rechtsberatungsleistungen drastisch gekürzt. Das alles soll mit einem niedrigeren Budget als zuvor funktionieren, zwischen 21 und 26 Euro pro aufgenommener Person. Offensichtlich gewinnt den Wettstreit, wer das wirtschaftlich rentablere Angebot machen kann – die Verbilligung von Leben.
Die zugehörigen Anlagen dieser vertraglichen Vorschriften betreffen bloß die Finanzen. Betreuungs- und Integrationsleistungen werden keine Beachtung geschenkt. Die Regierung, die Veränderung versprochen hatte, stellt einen Fonds für große Betreiberkooperativen bereit, die Vorteile genießen um große Zentren zu betreiben, in denen möglichst viele Menschen „abgeparkt“ und die Kosten pro Kopf niedrig gehalten werden können. Das beste Beispiel für diese Praxis ist das außerordentliche Aufnahmezentrum von Mineo. Das Ziel ist es, mehr Geld pro Person zu verdienen, da die Regierung beschlossen hat, Kapital aus den Migrant*innen zu schlagen. Und das nicht nur aus Gründen der Propaganda, sondern auch um einigen Kooperativen zuzuspielen, welche die Streichungen von qualifizierten Fachkräften befürworten. Das wird auch Auswirkungen auf die Transparenz haben: es wird noch schwieriger sein, ein Monitoring der Aufnahmezentren auf unabhängige Art und Weise zu gewährleisten.
Doch wenn wir 49 Menschen für die Dauer von 19 Tagen der Gewalt des eisigen Meeres ausgesetzt haben, was können wir denn dann von der europäischen Politik erwarten? Wir müssen aus dieser Abgestumpftheit aufwachen, wir müssen damit aufhören, auf unsere Computertastaturen zu blicken und beim Spiel der Politiker*innen mitzumachen, die von unserem Realitätsverlust profitieren. Wir müssen unseren Alltag leben um uns in die Augen blicken zu können, um die verlorene Menschlichkeit wiederzugewinnen und über Dinge zu diskutieren, die für uns wirklich wichtig sind, für unsere Kinder und für die Zukunft dieser Gesellschaft.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Angela La Cognata