Krieg gegen Migrant*innen: Landung in Palermo
On August 31st, 1169 people were landed at the the port of Palermo.
Am 31. August 2016 sind 1169 Personen im Hafen von Palermo gelandet. Den vom Schiff Giuseppe Garibaldi der italienischen Marine geretteten Migrant*innen sei eine „militärische“ Behandlung zuteil geworden, hätte sich doch ein Mitglied der Besatzung über die „Invasion auf seinem Schiff“ beklagt – denn die eigentliche Bestimmung der Garibaldi ist die Verteidigung der Außengrenzen des italienischen Territoriums und die Überwachung der Sicherheit im Lande. Das sagt einiges aus über die Atmosphäre an Bord und über die Einstellung gegenüber den geretteten Migrant*innen.
Wir wurden Zeug*innen einer chaotischen Anlandung – einer totalen Nichtorganisation seitens des Ministeriums – und das auf institutioneller wie auch auf operativer Ebene. Die Präfektur (Verwaltung) und die Quästur (Polizeiorgane) waren hart gefordert, die bei anderen Landungen jedoch auf exakt entgegengesetzte Art und Weise gearbeitet und die Ankunft dadurch erleichtert hatten. Man hört, dass „sich Einiges geändert habe!“
Am Hafen ist die Atmosphäre angespannt und bedrückend. Die Ankommenden werden wie Schwierigkeiten und Ärger verursachende Zahlen behandelt, die uns die Ferien und den Alltag vermiesen – und das trotz der neuen Einnahme- und Verdienstmöglichkeiten Vieler, die am „Migrantenbusiness“ verdienen, trotz der Möglichkeit, Wählerstimmen angesichts von politichen Wahlkampagnen zu gewinnen.
Die Leute wurden aufs Polizeipräsidium gebracht zur Identifizierung und zur Unterzeichnung des „foglio notizie“*, welches durch den diensthabenden Angestellten oder von Mediator*innen der Polizei bereits im Voraus ausgefüllt wurde – und bei allen Antworten mit einem Kreuz versehen – außer bei der Angabe „Asylantrag“. Die Fotoidentifizierungen hatten bereits am Hafen stattgefunden. E handelte ich um eine Operation, bei der es nicht an feindseligen Gesten und Gewaltanwendung mangelte, bei der die Polizei sich nicht darauf beschränkte die Sündenböcke und vermuteten Schlepper ausfindig zu machen. Es wurden ausländische Freiwillige der Caritas (die stundenlang Nahrungsmittel verteilt hatten) festgenommen, weil sie Fotos gemacht hatten, und das an einem Ort, wo Polizeibeamte und Mitarbeiter*innen des Italienischen Roten Kreuzes und anderer Organisationen regelmäßig Selfies machen – die sozialen Netzwerke sind voll davon! Dank der Vermittlung der Caritasverantwortlichen wurde klargestellt, dass die freiwilligen Helfer*innen, wie alle anderen, eine Erfahrung in ihrem Leben festhalten wollten. Ein Polizit hat sich ebenfalls entschuldigt, der sich vielleicht auch klarwurde, dass Zwang und Machtmissbrauch ausgeübt wurden.
Die Landung verlief extrem langsam und begann mit Verspätung aufgrund von Missverständnissen zwischen den zuständigen Behörden. Zuerst verließen 500 eskortierte Migrant*innen das Schiff, die in verschiedene Aufnahmezentren in andern Regionen Italiens gebracht werden sollten (Lombardei, Abruzzen, Apulien, Molise, Marken, Kalabrien, Piemont, Toskana, Emilia Romagna und Latium). Dann erschienen nach und nach die unbegleiteten Minderjährigen, 152 aus Eritrea und 29 aus dem Maghreb. Mit diesen Mädchen und Jungen wurde anders verfahren: eine erste Gruppe wurde aufs Polizeipräsidium gebracht für die übliche Identifikation. Sie haben die ganze Nacht in der Halle des Immigrationsbüros verbracht und wurden gestern Nachmittag (nachdem sie 24 Stunden auf dem Boden sitzend ausgeharrt hatten) in das berüchtigte Zentrum in der Via Monfenera gebracht. Am Ende dieses Tages waren 250 Jugendliche dort untergebracht, nach der Ankunft der 92 Neunankömmlinge aus Eritrea. Die zurückbleibenden Mädchen und einige wenige andere Jugendliche sind immer noch auf dem Präsidium und warten auf eine Unterbringung, genauso wie die Jungen aus dem Maghreb, die mit großer Wahrscheinlichkeit zurückgewiesen und ohne Hilfe und Angaben ihrem Schicksal auf der Straße überlaßen werden – das ist die bereits zur Gewohnheit gewordene Praxis der Quästuren.
Trotz der Anwesenheit der Gemeindebehörden während der Anlandungen hat bis heute keiner eine Lösung zu einer menschenwürdigen Aufnahme der Minderjährigen gefunden. Die Gemeinde hat hier die große Verantwortung, sie können ihre Hände nicht in Unschuld waschen, inbesondere wenn das alte Liedchen davon erklingt, dass Palermo die aufnahmefreundlichste Stadt Europas sei. Die täglichen Vorkommnisse, ohne die Präsenz der Fernsehberichterstattung, strafen diese Aussagen unerbittlich der Lüge.
In einer Stadt, die sich ihrer Gastfreundschaft rühmt, sollten Jugendliche nicht auf Bänken im Hafen übernachten, wie es vor zwei Tagen der Fall war, für jene, die erst später von der Giuseppe Garibaldi von Bord gehen konnten; eine solche Stadt muss für alle Anlandungen gerüstet sein. Sie benützt nicht die Schwächsten für ihren (sicher berechtigten) Kampf für die gerecht verteilte Verantwortung auch an die anderen Gemeinden und Regionen für die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Migrant*innen.
Das Innenministerium erteilt weiterhin Anordnungen, die gegen die internationalen Konventionen verstoßen und die verantwortlichen Beamten bekunden große Mühe mit der Situation. Es seien die „Militärs“, die gehorchen, auch in unmöglichen Situationen, wie diese: 400 Migran*innten mussten im Laderaum des Schiffes die ganze Nacht ausharren, denn die Landeoperationen wurden um zwei Uhr morgens unterbrochen. Sogar die Militärs haben zugegeben, dass der Aufenthalt im Laderaum nicht angenehm ist und sie haben zugegeben, dass die bessere Lösung gewesen wäre die Operation am Kai durchzuführen.
Die Militärs kennzeichnen mit Filzstift einzelne Migrant*innen auf ihrem T-shirt. Die Zahlen identifizieren sie als Besitzer von verbotenen Gegenständen wie Mobiltelefonen oder anderen Objekten, die ihnen abgenommen werden. Am Kai werden die eingesammelten Dinge durch Beamt*innen von Frontex dahingehend untersucht, ob durch die eingesammelten Objekte die Sicherheit der europäischen Union nicht gefährdet werde und bei Ungefährlichkeit den Leuten zurückgegeben. Das Bild der markierten Menschen war nicht schön, es hat die Erinnerung an vergangene Zeiten geweckt.
Die Heuchelei dieses tödlichen Systems wird täglich aufgedeckt – zum Beispiel wenn man in Palermo Migrant*innen auf der Straße wiederfindet, die die Woche vorher in Trapani zurückgewiesen wurden.
Wer aus dem System herausfällt hat weder Kontakte noch Geld. Er/sie kann nur auf der Straße leben. Also soll uns nicht eingeredet werden, dass diese Strafmaßnahmen der Sicherheit dienen, weil die Tatsachen das Gegenteil beweisen. In einer der kommenden Nächte werden auch die Migrant*innen aus dem Maghreb der letzten Anlandung in Palermo auf die Straße ausgesetzt werden und sie werden sich mit denen aus Trapani zusammenfinden und mit den 30 Eritreer*innen, die gestern Nachmittag aus dem regionalen HUB Villa Sikania geflohen sind. Es handelt sich um Leute, die der unendlich langen Wartezeit auf ihre Umverteilung, die Relocation, müde geworden sind und sich auf dem Weg nach Agrigento befinden, um von dort aus weiter zu reisen.
Der Krieg gegen die Migrant*innen geht weiter. Aber die Folge davon wird die weitere Zerstörung von Menschenleben und Familien sein, in der Hoffnung, dass der Wind sich dreht.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*Foglio Notizie – verschiedene Formulare der Polizei, die ausgefüllt und unterschrieben werden müssen, je nach Antrag der Person. Es sind Angaben zur Person und ihrer Vergangenheit und ihres zukünftigen Aufenthalts in Italien zu beantworten.
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne