Für wenige Stimmen verscherbelt
Letztes Wochenende nahmen die Ankünfte wieder auf und solche Zahlen hat man schon lange nicht mehr gesehen. Die politische Lage Libyens und die Destabilisierung der Gebiete im Süden der Welt – ferner die unzähligen Kriege, an denen wir uns beteiligen – machen nur einen Teil der Ursachen aus, die zwischen Freitag und Sonntag zu einer Ankunft von mehr als 2500 Menschen an unseren Küsten führten. Menschen, die wir weiterhin nicht als solche wahrnehmen, die wir wie Nummern behandeln, um sie weiterhin umzubringen, zu verstümmeln, zurückzuweisen und nicht aufzunehmen. Ein Recht, das zwar auf Papier anerkannt wird, das wir aber gänzlich verscherbelt haben.
Insbesondre Italien hat hunderttausende Menschen an die libyschen Milizen verscherbelt, nur um zu vermeiden, dass sie Europa erreichen. Das ist Aufgabe der Milizen, die zu diesem Zweck jegliche Mittel anwenden dürfen. Solche Entscheidungen, eine solche Sicherheitspolitik, die die Menschen wie Nummern behandelt, bescherte den mehr oder weniger xenophoben eingestellten Rechten Europas den Wahlsieg.
Alle NGOs, die in Libyen waren, von jenen, die den Institutionen am Nächsten stehen, bis zu denen mit einer sehr kritischen Einstellung teilen die Grundgedanken, die für unseren Analyse wesentlich sind: In Libyen gibt es keine Regierung, der libyschen Küstenwache kann man nicht trauen und die Menschenhändler stecken mit der Politik unter einer Decke. All das wird ständig von den Menschen bestätigt, die in Italien ankommen, Menschen, die die Kraft aufbrachten zu überleben, trotz aller erlittenen Übergriffe, trotz schrecklicher, grausamer Gewalttaten.
Abgemagerte Körper, die immer mehr denen der Häftlinge in Auschwitz ähneln, wie eine Helferin behauptet, die in diesen Tagen einer Ankunft beiwohnte: „So etwas habe ich noch nie gesehen; es wird immer schlimmer, die Foltern in Libyen werden immer grausamer, die Leute, die ankommen, zeigen verschiedenartige Verstümmelungen auf. Viele befinden sich in einem Zustand akuter Unterernährung, insbesondre einige Nationalitäten. Aber auch in einem solchen Zustand müssen die Menschen im Hafen, auf dem Kai oder auf den Booten abwarten, weil wir nicht im Stande sind, sie aufzunehmen. Möge Gott uns vergeben.“
Am meisten löst der Umstand Wut aus, dass Immigration – in unser aller Vorstellung – nunmehr mit der Geschichte zusammenfällt, die uns eine arrogante Politik erzählt, die auf der Suche nach einem Sündenbock ist, der jederzeit herhalten kann. Noch dramatischer ist der Umstand, dass wir unfähig sind, uns alledem zu widersetzen.
Dieses Wochenende standen die Toten wieder in der Zeitung. Es wurde kurz über sie berichtet, doch erzählte niemand die Geschichten der täglichen Desparecidos, der Namenlosen, im Meer verschollenen Leben: Über deren Leid sprechen wir nicht, wir schenken ihm kein Gehör. Tote, die für wenige Wähler*innenstimmen verscherbelt wurden, Tote, um die sich keiner kümmert.
Wer lebend bei uns ankommt, erlebt Aufnahmebedingungen, die immer noch einem Ausnahmezustand entsprechen. Bei der Ankunft in Trapani wurden die Tunesier*innen, sobald sie den Kai berührten, gefesselt (der Polizei liegt viel daran, zu betonen, dass ihnen keine Handschellen umgelegt werden; diese Vorgehensweise diene dazu, ihre eigene Unversehrtheit zu gewährleisten); wenn sie sich einmal nicht mehr bewegen konnten, wurden sie von zwei Beamt*innen zum Hotspot eskortiert. Wenn du Tunesier*in bist, wirst du auf jeden Fall wie ein* Verbrecher*in behandelt und keine der vorhandenen humanitären Organisationen prangert diese Vorgehensweise an. In Augusta dauerte die Abwicklung einer Ankunft drei Tage lang: Menschen, schwangere Frauen und Kinder eingeschlossen, warteten unter der Sonne, ohne Duschen, bis sie endlich in einen Bus nach Norditalien verfrachtet wurden. Auch in diesem Fall wenden sich die vorhandenen Organisationen, die diese illegalen und unmenschlichen Vorgehensweisen an die Öffentlichkeit bringen könnten, einfach ab oder behaupten, es sei für sie unmöglich, sich alldem zu widersetzen.
In den Hotspots von Lampedusa und Pozzallo, Orte, wo der Zutritt verboten ist, lautet das Motto: Ordnung und Sicherheit.
In Messina scheiterte die Umverteilung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Anstatt gemäß des neu beschlossenen Verfahrens in den durch FAMI (Fond für Migration und Integration) finanzierten Zentren auf Sizilien und in den restlichen Regionen Italiens aufgenommen zu werden, wurde ein Teil von ihnen nach Messina in die dortigen Erstaufnahmezentren gebracht, nach der Übernachtung in einem CPSA* (das wie ein Hotspot funktioniert) zusammen mit Erwachsenen.
In Palermo hingegen gab es nach knapp weniger als sechs Monaten eine Ankunft und wir waren nicht im Stande, das Gebiet anständig vorzubereiten. Nach dem Nein zum Hotspot in Palermo scheint die barbarische Empfangnahme der 250 Menschen, die die Nacht auf dem Hafenboden verbringen mussten, eine echte Provokation zu sein. Andere mussten während dem Identifikationsverfahren auf dem Boden der Polizeistation warten und wurden später in Bussen in den Norden gefahren, zu den CAS*, den außerordentliche Aufnahmeeinrichtungen. Sie trugen dieselben Kleider und konnten sich nicht waschen. Erneut wurden Menschen wie Nummern behandelt: Jetzt gibt es sogar ein Nummernsystem für die Identifikation der verschiedenen Staatsangehörigkeiten. Das Hotspotsystem sortiert Migrant*innen nach Staatsangehörigkeit und für viele rückt der Zugang zum Schutzstatus immer weiter weg. Was in Palermo geschehen ist, verstehen wir als Provokation: „Ihr wollt keinen Hotspot? Dann dürft ihr euch nicht beklagen, wenn wir die Menschen in diesem Zustand lassen, ihr seid selbst Schuld an dieser unmenschlichen Vorgehensweise!“
Was die Aufnahme angeht, sind Widerrufungsmaßnahmen eines Platzes im Aufnahmesystem sehr häufig, etwa 50 pro Woche; dementsprechend nimmt die Armee der Unsichtbaren und der Verzweifelten zu, ein Nährboden für den Schwarzmarkt der Wohnsitzanmeldungen und der für die Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung nötigen Papiere. Die Menschen verlassen die Einrichtungen und verlieren somit nicht nur ihr Anrecht auf Leistungen; sie werden unsichtbar und bleiben es auch, wenn sie auf dem Land oder in den Bergen zwischen Italien und Frankreich sterben, wo jetzt unter dem nun schmelzenden Schnee die zuvor bedeckten Körper wieder sichtbar werden. Im Moment redet man aber lieber nicht davon, denn das würde unsere Politiker*innen stören, die mal wieder auf Stimmenjagd sind.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CPSA: Centro di Primo Soccorso ed Accoglienza – Erstaufnahmezentrum
*CAS – Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanna Karasz