Die neue Seilnetzkonstruktionshalle am Hafen von Palermo
Vergangenen Samstag ist das norwegische Frontex-Schiff „Siem Pilot“ in Palermo mit einer Fracht von 1000 Migrant*innen an Bord angelandet. Wir benutzen diesen Begriff, da die Personen tatsächlich wie Ware behandelt wurden. Wir veröffentlichen einen Brief, der an unsere Redaktion von einer ehrenamtlichen Helferin geschickt wurde, die zum ersten Mal am Hafen gewesen ist.
Die Siem Pilot im Hafen von Palermo
„Sehr geehrte Redaktionsmitglieder des Blogs siciliamigranti, ich schreibe euch, um meine Wut mit euch zu teilen, die ich weiterhin nach der Ankunft der Migrant*innen am Samstag, den 25. Februar, um 8:00 Uhr in Palermo, empfinde. Ich bin Rechtsberaterin und wende mich an euch, weil ich gerne euren Blog lese, der euren Followern eine Stimme verleiht.
Außerdem bin ich überzeugt, dass keine Zeitung meine Überlegungen veröffentlichen würde.
Diese Überzeugung ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass keine Zeitung, kein Fernsehsender oder andere Medien über das, was in Palermo bei der letzten Ankunft passiert ist, berichtet hat, da alle nur über die Geburt des Mädchens auf dem Schiff unter norwegischer Flagge berichtet haben.
Niemand hat über das Durcheinander berichtet, als die Militärangehörigen der Siem Pilot die persönlichen Objekte, wie Telefone, Brillen, Dokumente, die den Personen an Bord weggenommen wurden, anschließend nicht zurückgegeben wurden. Nur die Intervention von ehrenamtlichen Helfern hatte zur Folge, dass einige Frauen ihre persönlichen Objekte zurückerhalten haben. Es handelt sich hier eindeutig um Missbrauch, da über die Beschlagnahme kein Protokoll aufgenommen wurde. Wir könnten dies auch als Diebstahl bezeichnen zulasten von Personen, die derartiges Unrecht nicht nur in Libyen sondern auch im zivilen Europa ertragen müssen. Noch beschämender und unmenschlicher ist es gewesen, ganze Familien auseinander zu reißen, Kleinkinder von ihren Müttern zu trennen.
Es ist schrecklich gewesen, an den Szenen teilzuhaben, in denen ehrenamtliche Helfer*innen Kleinkinder im Arm hielten, die weinten in Erwartung, dass ihre Eltern die Schiffe verließen. Ich habe andere ehrenamtliche Helfer*innen um Erläuterung gebeten, die mir erzählt haben, dass so etwas zum ersten Mal passiert sei.
Nur die unermüdliche Arbeit einiger aufmerksamer, ehrenamtlicher Helfer*innen hat es erlaubt, die Familien zusammenzuführen, auch wenn nicht alle. Tatsächlich hat diese Trennung der Familien, die von dem Kapitän durchgeführt wurde, die Behörden in ernste Schwierigkeiten gebracht, denen verschiedene Fehler unterlaufen sind. Eine Frau wurde in eine Region gebracht, ihre Tochter hingegen in eine andere.
Unter Druck der Mitarbeiter*innen von UNHCR und IOM haben die zuständigen Beamt*innen des Polizeipräsidiums mit ausgebreiteten Armen geantwortet und behauptet, dass „sie sich doch wiedersehen werden“. Ich frage mich, ob die Beamt*innen dieselben unmenschlichen und oberflächlichen Worte gebraucht hätten, wenn es sich um die eigene Tochter gehandelt hätte, die nach der Überquerung der Wüste Libyens und des Meeres diese Trennung erlebt hätte. Auch die Haltung der Frontex-Beamt*innen ist unmenschlich. Wir waren nicht in der Lage, unsere Tätigkeit zur Verteilung des Essens, der Kleidung und Schuhe auszuüben, weil sie wie Geier auf bedrängende Weise Informationen von den Migrant*innen erfragten, die nackt, barfuß, frierend und hungrig waren.
Die erste Nacht an der Mole
Ein Mitarbeiter der Caritas intervenierte, indem er wiederholt die Frontex-Beamt*innen gebeten hatte, uns arbeiten zu lassen, auch weil sie die hierfür erforderliche Zeit und die Möglichkeit haben, ihre Tätigkeit im vorgesehenen Bereich für die Erstidentifizierung, der neben dem Polizeipräsidium liegt, auszuüben.
Noch mehr Wut habe ich empfunden, als ich ein Kommando von Militärangehörigen (Polizei, Finanzbeamt*innen und Frontex) mit 15-20 Personen, hauptsächlich Nordafrikaner*innen, das Schiff verlassen sehen habe, die zu einem etwas abgelegeneren Bereich an der Hafenmole gebracht wurden. Ich habe die anderen ehrenamtlichen Helfer*innen um Informationen gebeten. Diese antworteten mir, dass es sich um vermutliche Schlepper handele und dass dieser Bereich der Hafenmole sich bald noch weiter gefüllt hätte mit den Operationen zur Aufspürung von Zeug*innen. Sie haben mir erzählt, dass die Auswahl der vermutlichen Schlepper sehr dem Zufall überlassen ist und dass diese Personen zu Untersuchungszwecken benutzt und dann sich selbst überlassen werden. Es sind die vermutlichen Schlepper, die auf der ersten Seite der Presse wie Monster dargestellt werden, um eine vom Sicherheitsgedanken gelenkte Propaganda zu fördern, die ihre Schuldigen benötigt. Ich zweifele daran, dass diese Personen zu kriminellen Organisationen gehören.
Unter den Ankömmlingen gab es sehr viele Kinder, aber um Milch und Windeln für die Neugeborenen zu besorgen, mussten wir zusammenlegen, da niemand, von der Gemeinde bis zum Roten Kreuz, hierüber verfügte. Ein ehrenamtlicher Helfer der Caritas hat mehrfach den Stadtrat Ciulla erfolglos um Milch gebeten, aber man hat mir gesagt, dass dies nicht zum ersten Mal geschieht. Auch der Verantwortliche der regionalen Gesundheitsbehörde hat mit den Schulter gezuckt. Das, was einen am meisten ärgert, ist, dass sich alle mit dem auf dem Schiff geborenen Mädchen fotografieren lassen möchten, eine schändliche Heuchelei.
Schließlich sind über 300 Personen in der Seilnetzkonstruktionshalle zusammengepfercht worden, die noch nicht fertig war, um sie zu benutzen. Sie haben einer auf dem anderen auf dem Boden geschlafen, wobei nicht einmal diejenigen von denjenigen getrennt wurden, die die Krätze hatten. Ich frage mich, warum die Gemeinde und die Präfektur nicht in der Lage gewesen sind, die Seilnetzkonstruktionshalle fertigzustellen, um all diese Personen in mehr oder weniger würdevoller Art und Weise unterzubringen, obwohl ausreichend Zeit hierfür zur Verfügung stand. Ich habe mich zutiefst dafür geschämt, Männer, Frauen und Kinder wie in einem Lager zusammengepfercht zu sehen.
Erst nachdem einige ehrenamtliche Helfer*innen sich beschwert hatten, wurden die Personen mit Krätze von den anderen getrennt und den Frauen und Kindern so schnell wie möglich die Weiterfahrt ermöglicht. Ich verstehe nicht, warum die Gesundheitsbehörde und das Rote Kreuz weggehen und die Personen sich selbst überlassen, sobald diese das Schiff verlassen haben.
Ich glaube, das wird meine letzte Erfahrung sein. Ich möchte das Erlebnis, Kinder weinend und Frauen ihre Kinder und Ehemänner suchend zu sehen, nicht mehr wiederholen und hierbei Komplizin sein. Ich bin mir sicher, dass ich eure Aufmerksamkeit erhalte und ich wünsche mir, dass ihr eure Aufklärungstätigkeit fortsetzt.“
Diese Worte wiegen schwer und sind ernst gemeint, und wir können nicht umhin, diese Meldung unserer Leserin zu veröffentlichen, die wir – wie von ihr gewünscht- anonym behandeln.
Wir haben feststellen können, dass von den 995 angekommenen Personen 500 zwischen der Seilnetzkonstruktionshalle und der Hafenmole übernachtet haben, so wie es seit geraumer Zeit in Palermo geschieht.
Die Institutionen müssten eine funktionierende Koordinierung organisieren, die solche Situationen vermeidet, um einen würdevolle Aufnahme der Ankömmlinge zu gewährleisten. Wir teilen die von unserer Leserin aufgezeigte Ratlosigkeit und hoffen, dass jemand eine Antwort erteilt. Wir hoffen auch, dass die Medien darüber berichten, was passiert, und nicht so tun, als ob nichts geschehen sei, um möglicherweise einem*r Politiker*in genehm zu sein.
Und während Personen weiterhin aufgrund der unmenschlichen Migrationspolitik sterben, wird auch in Palermo die Aufnahme am Hafen zu einem Problem: Kein schlechter Start für die Seilnetzkonstruktionshalle.
Redaktion Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Lan Gatti