Von Tripolis nach Ciminna: Die Frauen aus dem Aufnahmezentrum in der Provinz Palermo
Bericht der Beratungsstelle Sans-Papiers – Arci Porco Rosso
Vor zwei Wochen begaben wir uns nach Ciminna, um die Bewohner*innen des außerordentlichen Aufnahmezentrums (CAS) zu besuchen, das vor einigen Monaten auf der Rückseite des Friedhof kurz nach dem Ortsausgang des kleinen Dorfes in der Provinz Palermo eröffnet wurde. Früher beherbergte das unweit eines Franziskanerkonvents gelegene Gebäude das Altenheim „Boccone del Bovero“. Vor etwa acht Monaten taten sich die Sozialinitiativen Onlus Facility Service und La Metamorphosi in einer zeitlich begrenzten Unternehmensvereinigung zusammen und nahmen erfolgreich an der Ausschreibung der Präfektur von Palermo für die Einrichtung neuer Aufnahmezentren teil.
Unseren Schätzungen nach müsste es zur Zeit 44 Aufnahmezentren in Palermo und Provinz geben, sieben davon für Frauen und Familien. Im vergangenen Mai lief die Ausschreibung aus, der Antrag wurde am 13. Juni 2017 bewilligt. Zunächst unter Vorbehalt weiterer Überprüfungsmaßnahmen veröffentlicht, enthielt die Ergebnisliste in ihrer endgültigen Fassung vom 10. Juli zwar die Namen der Bewerberorganisationen aus Ciminna, allerdings mit dem Vermerk, dass die dazugehörigen „Überprüfungsmaßnahmen noch nicht abgeschlossen“ seien. Einem auf dem Blog „I nuovi vespri“ veröffentlichen Interview mit dem Verantwortlichen des Zentrums zufolge waren im vergangenen Juli bereits etwa 20 Gäste (Männer) im Zentrum untergebracht. Sie hätten das Zentrum kurze Zeit später aus eigenen Stücken verlassen – die erste in einer langen Reihe von Fluchtunternehmungen.
Nicht zufällig hatten wir uns dazu entschieden, ausgerechnet Ciminna zu besuchen: Einen Monat zuvor hatten sich ein paar junge, seit wenigen Wochen im CAS untergebrachte Frauen an unsere Beratungsstelle gewandt, weil sie den letzten Überlandbus nach Ciminna verpasst hatten und nun dringend nach einem Schlafplatz suchten. Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass die Frauen sich von diesem Zentrum entfernten, das seinen Bewohner*innen in vollkommen isolierter Lage tatsächlich, wie wir zu unserem Entsetzen feststellen mussten, keinerlei Dienstleistungen bietet.
Im Aufnahmezentrum von Ciminna leben Frauen und Familien. Zur Zeit sind dort etwa 25 Personen unterschiedlicher Nationalität untergebracht: aus der Elfenbeinküste, aus Eritrea, Somalia, Kamerun, Guinea, Ghana, Tunesien, Marokko und Nigeria. Eine Bewohnerin ist im neunten Monat schwanger und hat angeblich noch kein einziges Mal einen Arzt zu Gesicht bekommen. Eine kleinere Gruppe von Frauen ist im Oktober angekommen, eine etwas größere folgte Anfang Februar nach der Landung der Sea Watch am 20. Januar in Messina.
Die meisten kommen vom Hotspot in Messina, wo sie sich vor ihrem Umzug nach Ciminna einige Tage lang aufhielten. Die längsten Aufenthaltszeiten im Zentrum betragen acht beziehungsweise sechs Monate. Somit wird offensichtlich, dass sich die meisten hier untergebrachten Personen aus eigenem Willen früher oder später vom Zentrum entfernen. Aus eigenem Willen – aber ohne nennenswerte Alternative, möchten wir hinzufügen, wenn man die Isolation des Zentrums und die einstimmig von den Bewohner*innen denunzierten Lebensbedingungen in seinem Innern bedenkt.
Als wir ankommen, fragen uns die Bewohner*innen, ob wir von der UN seien, einige Monate zuvor seien UN-Mitarbeiter*innen zu Besuch gekommen. Wir setzen keinen Fuß ins Zentrum, sondern warten vor dem Gebäude, um mit den Bewohner*innen zu sprechen. Eine Frau erzählt uns: „Ich habe zwei Jahre in Libyen verbracht und nur Gott weiß, was ich gesehen habe. Niemals hätte ich geglaubt, dass mich nach meiner Ankunft in Europa an einem Ort wie diesem hier wiederfinden würde. Es gibt hier nichts, nichts und wieder nichts.“ Sie hat ein Heft bei sich. Wir fragen sie, ob sie zur Schule gehe, aber sie erwidert, dass sie niemals weder Lehrpersonal noch Volontär*innen für Italienischunterricht gesehen habe. Sie bitte uns um Hilfe und verbirgt ihre Tränen in ihrem Tuch.
Zum Zeitpunkt unseres Besuchs begegnet uns als einzige Mitarbeiterin eine Frau, die sich als Volontärin ausgibt. Weder die Verantwortlichen noch die regulären Mitarbeiter*innen sind anwesend. Die Bewohner*innen erzählen uns, dass sich unter der Woche normalerweise drei Mitarbeiter*innen und eine arabischsprachige Mediatorin im Schichtdienst abwechseln. Abgesehen von einer seit kurzem im Zentrum befindlichen Frau berichten all unsere Gesprächspartner*innen, dass sie noch nie ärztliche Hilfe oder Beratung in Anspruch nehmen konnten. Ein Mädchen klagt über eine seit Oktober bestehende Infektion mit starken Schmerzen und bittet um Hilfe – seit vier Monaten warte sie vergeblich auf medizinischen Beistand. Niemand hier hat jemals einen Anwalt oder eine Anwältin zu Gesicht bekommen oder rechtliche Beratung erhalten, niemand ist jemals für die Stellung oder Bearbeitung des Asylantrags im Präsidium gewesen. Viele Tragen noch die Kleidung und Schuhe, die sie kurz nach der Schiffslandung erhalten haben – man habe ihnen nie andere Kleidungsstücke zur Verfügung gestellt. Einmal am Tag gebe es Essen und das Trinkwasser komme aus einer unweit vom Zentrum gelegenen Quelle. Tatsächlich berichtete die Lokalzeitung im letzten Jahr, dass der Wassermangel im Zentrum der örtlichen Polizei aufgefallen sei.
Es ist schmerzvoll, über Situationen wie die soeben beschriebene berichten zu müssen. Die Situation ist keineswegs außergewöhnlich – es gibt viele Aufnahmezentren in baufälligen Anlagen wie ehemaligen Luxushotels, monströsen Spuren der Immobilienspekulation der 1970er Jahre, ehemaligen Ski-Anlagen oder Berghütten, die nun ganz anderen ökonomischen Interessen unterstehen. Trotzdem war es für uns eine neue Erfahrung, Frauen und Kinder als Protagonist*innen solcher Szenarien sehen zu müssen. Frauen in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft, junge Mädchen mit sexuell übertragbaren Krankheiten, die erst vor kurzer Zeit (und wer weiß zu welchem finanziellen und persönlichen Preis) den Gefängnissen der libyschen Miliz entronnen sind. Hilfsbedürftige Personen, die dringend ein gut aufgestelltes Aufnahmesystem mit ausgebildeten Mitarbeiter*innen und psychologischer Unterstützung bräuchten – wie es all jenen zustehen sollte, die, wie sie, gewaltsame Traumata erleiden mussten. Aus einem System wie dem jetzigen bricht man lieber aus – und flieht in die Peripherie irgendeiner europäischen Stadt.
Beratungsstelle Sans-Papiers – Arci Porco Rosso
Aus dem Italienischen von Laura Strack