89 Überlebende erreichen Pozzallo. Erschreckende Bilder des x-ten Schiffbruchs rufen alle zum Handeln auf.
Es ist der 31. Oktober. Die Aufmerksamkeit nationaler und internationaler Medien ist auf die Operation Triton gerichtet, die in Kürze ihre Arbeit aufnimmt, und auf ihr Zusammenspiel mit Mare Nostrum. Die Unklarheit über Triton riskiert unnütze Diskussionen zu schüren und von den entscheidenden Problemen der Operation abzulenken. Das Sterben von Migranten an der südlichen EU-Außengrenze geht unterdessen weiter.
Der Schiffbruch 20 Meilen vor der libyschen Küste, liegt drei Tage zurück. Nach Aussagen der Rettungskräfte und der Überlebenden befanden sich 120 Personen an Bord. Die Spuren an den Körpern jener, die dieser Tragödie entkommen sind bestätigen, was ihre Worte nicht beschreiben können. Ein beschädigtes Schlauchboot; Flüchtlinge auf See, die vorhandene Luftschläuche als Rettungswesten benutzten; und Überlebende mit Verbrennungen, verursacht vom eingeatmeten Kraftstoff.
Nach den ersten Rettungseinsätzen bringt die Fiorillo, ein Schiff der Küstenwache, überlebende Flüchtlinge nach Pozzallo. Mit an Bord befinden sich außerdem Migranten von zwei weiteren Schiffen, zusammen sind es 276 Personen, darunter 15 Frauen und 6 Minderjährige. Als sie am frühen Morgen die ibleische Stadt (Pozzallo) erreichen, werden sie bereits von Polizeikräften, dem Militär, Mitarbeitern des Projekts Praesidium, Ärzten des Sanitätsbetriebs der Provinz (ASP), Ärzte ohne Grenzen (MSF), den freiwilligen Helfern des italienischen Roten Kreuz (CRI), dem Zivilschutz sowie mehreren Journalisten erwartet. Auf dem Schiff, das soeben am Kai angelegt hat, erkennen wir sich bewegende weiße Schutzanzüge und Planen, in denen die geretteten Migranten eingewickelt sind. Barfuß erreichen letztere die Tragbahren, welche unter den Rettungszelten bereitgestellt wurden. Eritreische Männer sinken aus Erschöpfung zu Boden während sie auf den Bus warten. Nigerianer, Senegalesen und Gambianer verharren regungslos und schweigend, nachdem sie festen Boden berühren. Ihre langsamen und schweigenden Gesten stehen im Gegensatz zur Geschwindigkeit und den hektischen Rufen der Hilfskräfte, welche vor so viel unentschuldbarem Leiden noch nachsichtiger vorgehen. Es ist sehr schwer die Blicke der Neuangekommenen zu ertragen.
Die Identifizierung beginnt, Fotos werden gemacht und die ersten Angekommenen werden ins Erstversorgungs- und Aufnahmezentrum (CSPA) von Pozzallo gebracht. Morgen sollen einige Migranten ins Zentrum von Comiso verlegt werden. Es sind lange Stunden der Erholung, aber auch der Ermittlung und Befragung seitens der Kriminalpolizei, die ihre Arbeit bereits aufgenommen hat. Heute sind alle Anwesenden verstummt und so erschüttert, dass selbst die dringende Frage nach zukünftigen Einsätzen auf dem Meer auf später verschoben wird.
Am Morgen des 1. November gehen im Hafen von Augusta weitere 153 Migranten von Bord der Borsini. Die zum größten Teil aus Syrien und Palästina stammenden Flüchtlinge werden nach der Erstversorgung ins Zentrum, Le Zagare, in Melilli gebracht. Weitere 59 Personen erreichen noch am selben Abend den Hafen von Pozzallo.
„Wie viele werden es ohne den Einsatz der Militärmarine noch schaffen die Küste zu erreichen? Denn eines muss allen klar sein, wer vor dem Tod flüchtet macht vor nichts halt. Und ein Fluchtplan, der oft Jahre in Anspruch nimmt, kann nicht im Laufe weniger Tage geändert werden,“ sagt mir einer der Helfer und spricht dabei die Gedanken vieler Anwesenden aus. Die Ankommenden sind von Schmerzen zerstört und erschöpft von Kampf mit dem Tod, dies zeugt vom ihrem unbesiegbaren Willen ein besseres Leben zu wollen. Halten wir uns nur ihre direkten und entschlossenen Blicke fest, erkennen wir, dass sie uns anflehen nicht still zu stehen oder davon zu laufen sondern noch entschlossener Aufzutreten.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner