Neues Jahr, neue Probleme: ein Monat in Cassibile

Artikel vom 31. März 2021

Wie jedes Jahr wird auch in diesem März die Akte Cassibile wieder geöffnet. Zwar steht die Kartoffelsaison erst noch bevor und bisher lassen sich nur wenige Erntehelfer auf den Straßen der Kleinstadt blicken, aber die alten und neuen Probleme sind längst wieder auf dem Tisch.

Vor einem Jahr galt die größte Sorge den Hygienevorkehrungen im Camp, das jedes Jahr aufs Neue auf den verlassenen Grundstücken der Grafschaft Cassibile, unmittelbar vor den Toren des Dorfes aufgeschlagen wird. Dieses Jahr hat man – womöglich im Irrglauben, dadurch das Problem zu lösen – kurzerhand entschieden, dass es kein Camp geben wird.

Anfang März wurde eine provisorische Unterkunft von etwa zwanzig bereits eingetroffenen Erntehelfen in drei straßennahen Bauruinen von der Polizei geräumt. Türen und Fenster wurden versiegelt. Matratzen, Schlafsäcke und alles weitere Equipment, darunter Sachspenden einer Pfarrei aus Syrakus, wurden zur Mülldeponie gebracht. Das Gelände, auf dem nun im März das Camp hätte entstehen sollen, wird zurzeit polizeilich überwacht. Da drängt sich die Frage auf, wo die 300 bis 400 Erntehelfer, die jedes Jahr zur Kartoffelernte nach Cassibile kommen, nun unterkommen sollen.

Antworten gibt es viele. Der Stadtverwaltung von Syrakus zufolge können und sollen sich die Erntehelfer in ein Camp begeben, das die Stadt selbst in Cassibile errichtet, ins sogenannte „Erntehelferdorf“: 120 Schlafplätze in Containern und Zelten des Zivilschutzes. Das Camp mit dem aussagekräftigen Spitznamen “Hüttenlager” sollte am ersten April eingeweiht werden. Bei unseren zahlreichen Ortsbegehungen haben wir zwar einerseits den Fortschritt der Baustelle beobachten können, andererseits aber auch von Problemen mit dem Wasseranschluss und dessen Verwaltung erfahren. Es steht also zu befürchten, dass das Camp erst nach Beginn der Saison oder womöglich auch gar nicht mehr öffnen wird. Ohnehin könnte es nie alle eingetroffenen Erntehelfer beherbergen, weswegen davon auszugehen ist, dass im Umfeld weitere informelle Behausungen entstehen werden.

Wenig überraschend, dass einige Bewohner*innen bereits Proteste organisiert haben, um ihrem Unmut über die neuen Arbeiter im Viertel Luft zu machen. Die hasserfüllte Haltung einiger weniger Menschen aus Cassibile ist inzwischen sogar auf Amtsebene angekommen und hat unter anderem zu den Räumungen in den Bauruinen der Grafschaft geführt.

Die Hütten sind folglich das Resultat der chronisch notstandsbasierten Wohnungspolitik in Cassibile – eine Notlösung, die überhaupt gar nichts löst. Die Erntehelfer, die in den kommenden Wochen ankommen werden, gehen davon aus, wie in jedem Jahr ein provisorisches Zeltlager vorzufinden. Stattdessen erwartet sie eine eklatante Leerstelle, die alle vor ein bis dato ungesehenes Problem stellt. Denn die Erntehilfe ist üblicherweise alles andere als unorganisiert. Jedes Jahr ziehen tausende Arbeiter in Süditalien von Feld zu Feld, um die verschiedenen Ernten durchzuführen: erst Campobello di Mazara, dann Cassibile, schließlich wieder „aufs Festland“: Gioia Tauro, Metaponto, Nardò [Kleinstädte in den süditalienischen Regionen Kalabrien, Basilikata und Apulien, A.d.Ü.].

Ohne die zumeist provisorischen Siedlungen, die an jedem der genannten Orte entstehen, könnte diese Bewegung kaum funktionieren, wodurch die Scheinheiligkeit des Einwanderungs- und Wirtschaftssystems besonders drastisch zutage tritt: Diese Erntehelfer sind in erster Linie billige Arbeitskräfte, nicht aber  systemrelevante Arbeiter mit Anspruch auf Sicherheit und Schutz. Das Camp ist normalerweise ein wichtiger Bezugspunkt, selbst wenn es keinerlei Rechte garantiert. Ein Treffpunkt, in dem es allerdings auch Konflikte und Spannungen gibt.

In Campobello di Mazara, wo es im Moment nur wenig zu tun gibt, verschärfen sich die Spannungen zwischen den bestvertretenen Gemeinschaften – Senegalesen, Sudanesen und Gambier – und viele von ihnen würden am liebsten sofort nach Cassibile aufbrechen. Allerdings geht das Gerücht um, dass die Lage im Stadtteil von Syrakus alles andere als verlockend ist. Bisher gibt es auch dort wenig Arbeit, aber vor allen Dingen fehlt es an Schlafplätzen. Ohne das Camp haben viele Arbeiter entschieden, dieses Jahr nicht in Cassibile Station zu machen und stattdessen direkt Kurs aufs Festland zu nehmen. Wer bleibt, sucht provisorisch und nicht selten kostspielige Zwischenlösungen.

Für Ausländer*innen ist es in Cassibile nahezu unmöglich, eine Wohnung zu mieten. Einige Erntehelfer erzählten uns, dass ihre “Bosse” – so nennen sie ihre Arbeitgeber – Wohnungen im Dorf anmieten, in denen die Arbeiter dann übernachten können. Ob die Miete vom Gehalt abgezogen wird, und wer im Fall von Sachschäden zahlt, konnten sie uns allerdings nicht mit Sicherheit sagen. Andere wiederum erzählten von Freunden, die direkt auf den Grundstücken der Unternehmer unterkommen.

Wer noch keine Arbeit gefunden hat, wurschtelt sich irgendwie durch. Manche schlafen in den Höhlen außerhalb der Ortschaft, andere kommen im städtischen Nachtasyl unter, in der von Padre Carlo D’Antoni Kirchengemeinde von Syrakus oder bei der Caritas. Für diejenigen, die in der Stadt übernachten, scheint es jedoch angezeigt, sich nach anderen Arbeiten umzusehen: Denn der erste Bus nach Cassibile trifft erst um 7 Uhr vor Ort ein – viel zu spät, um an der Auswahl der Tagelöhner teilzunehmen. Wer auf der Landstraße zwischen Syrakus und Cassibile eine Unterkunft findet, hat bessere Karten, muss aber mit 300€ Miete pro Monat für kleine Zweizimmerunterkünfte rechnen.

Schließlich gibt es noch diejenigen unter den Erntehelfern, die eine Unterkunft in Cassibile selbst gefunden haben – in von anderen, meist marokkanischen und seit Jahren hier ansässigen Arbeitern untervermieteten Zimmern. Die Marokkaner genießen bei den Feldarbeitern kein hohes Ansehen: „Viele von ihnen sind Caporali“, erzählt man uns. So gesehen nehmen die sogenannten Caporali in der derzeitigen Situation in Cassibile also wieder einmal eine zentrale Rolle bei der Organisation der Arbeit ein. Da die Erntehelfer auf den verschiedenen Ländereien in der Gegend um Syrakus verstreut sind, braucht es die selbsternannten Bosse, um sie auf die Kartoffelfelder zu bringen, oder eben auch, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Der Eiertanz der öffentlichen Hand trägt nur dazu bei, die Handlungsmacht der Caporali auf den Ländereien zu steigern.

Im Widerspruch zu den Humanismus- und Effizienzrhetoriken der Stadt Syrakus führt diese ganze Situation dazu, dass die Arbeiter in Unsicherheit und Prekarität leben. Viele von denjenigen, die wir getroffen haben, sind mit der Situation äußert unzufrieden. Tag für Tag erhalten sie Anrufe von Freunde und Kollegen, die wissen wollen, ob es sich lohnt, nach Cassibile zu kommen – keiner weiß mehr, was man darauf antworten soll.

Zurzeit scheint alles darauf hinzudeuten, dass die Saison in Cassibile schief und krumm angelaufen ist und auf keinen Fall so weitergehen kann. An der Bushaltestelle Richtung Kalabrien haben wir schon so manchen Erntehelfer mit gepackten Koffern gesehen. Gleichzeitig wissen alle, dass irgendjemand diese Kartoffeln früher oder später wird ernten müssen – und die Gutsbesitzer werden auf sie zurückkommen, bräche ohne die Erntehelfer doch die gesamte Landwirtschaft im Landkreis Syrakus zusammen. Obwohl die Arbeiter wissen, dass sie unverzichtbar sind, müssen sie der Tatsache ins Auge sehen, dass Politik und Arbeitgeber sie in diesen Monaten sich selbst und ihrem Schicksal überlassen haben.

Der Journalist Massimiliano Perna hat dieser Tage ausführlich über die Geschehnisse in und um Cassibile berichtet und die Verantwortlichen eines möglichen und dringend notwenigen Wandels deutlich unter Druck gesetzt. Jahr für Jahr kommen die Behörden mit behelfsmäßigen Notlösungen daher und die Politik entbehrt jedweder längerfristigen Überlegung zu den Rechten und Ansprüchen dieser für die lokale Wirtschaft unerlässlichen Arbeitskräfte. Doch nicht nur der öffentlichen Hand sind die Missstände anzukreiden. Auch die gesellschaftlichen Akteure, darunter allen voran die Gewerkschaften, glänzen allzu oft durch Abwesenheit. Ganz zu schweigen von den Arbeitgebern, die es lieber mit den Caporali halten und Vollzeittätigen Teilzeitverträge ausstellen, anstatt in ein sozial nachhaltiges und gerechtes System zu investieren.  So schauen Erntehelfer und Solidarisierte zum Ende dieses ersten Erntemonats einander oft ratlos an und fragen: Wer weiß, ob die Dinge genauso verliefen, wenn alle Arbeitenden Italiener wären.

 

Emilio Caja
Borderline Sicilia

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack