Migrant*innen, ein Sommer voller Missbrauchsfälle und verweigerter Rechte

Auch in diesem, so wie jeden Sommer, sind die Scheinwerfer auf die Anlandungen gerichtet, allerdings wird der „Invasions“-Alarm dieses Jahr verstärkt geschlagen wegen des Coronavirus. So werden perfekte Bedingungen geschaffen für die x-te Hasstirade gegen Migrant*innen und die chaotische, katastrophale Abwicklung der Landungen.

Vor gut einem Jahr verließ ein Innenminister, der Schiffen die Anlandung verboten hatte, sein Amt. Die Diskontinuität in den Entscheidungen, die von der darauffolgenden Regierung groß angekündigt wurde, ist auch heute noch nicht einmal im Ansatz zu erkennen. Wir bezweifeln sogar, dass sie jemals umgesetzt werden wird. Die Liste der Fehltritte ist lang: weder wurden die Sicherheitsdekrete aufgehoben, noch abgeändert, Seenotrettung findet verspätet statt oder wird ganz unterlassen, die Schiffe der NGOs werden unter Angabe von administrativen Gründen festgehalten, die [sogenannte] libysche Küstenwache erhält weiterhin Finanzierungen, und das Aufenthaltsrecht von Migrant*innen wurde auf eine Art legalisiert, die man schlichtweg Betrug nennen kann. Diese unvollständige Liste zeigt, dass sich, bis auf die Rhetorik und manche Kraftakte, die aktuelle Regierung von der vorhergehenden, Lega-geführten in Bezug auf den Umgang mit Migration kaum unterscheidet.

Wir wollen weiterhin die Geschichten der Menschen erzählen, die wir treffen und die diesen furchtbaren Moment hautnah erleben.

Sana

Sana ist ein junger Mann aus Gambia. Während er sich die x-te Zigarette anzündet, bleibt sein Blick nach unten gerichtet und das Feuerzeug kann er nicht still in den Händen halten. Er sagt: „Ich gehe weg, ich will nicht mehr auf einem Bett sitzend darauf warten, dass mir jemand einen Termin gibt, um meine Papiere in Ordnung zu bringen, ich warte seit zu langer Zeit. In meiner Wohneinrichtung haben sie mir gesagt, dass das Polizeipräsidium noch keine Termine vergibt und es immer weiter aufschiebt. Ich muss aber wissen was ich machen soll, zu viele Menschen zählen auf mich“.

Er ist erst 19, aber er musste sehr schnell erwachsen werden, und jetzt ist er zwar noch jung, wirkt aber viel älter und zugleich unglaublich müde. „Während des Lockdowns haben sie mich in ein Gefängnis gesteckt, in eine Zelle, ohne dass irgendjemand aus meiner Einrichtung mir die Gründe dafür nennen konnte. Sie haben uns eingebuchtet und wir haben erst viel später den Grund dafür erfahren. Es waren Monate des Schweigens, wie in den libyschen Lagern wo man nie weiß, ob es ein Morgen geben wird. Immerhin wurden wir hier nicht verprügelt oder uns die Hoden verbrannt, trotzdem haben wir auch hier Gewalt erfahren und wir sind müde“.

Er raucht eine letzte Zigarette bevor wir uns verabschieden, und jetzt wissen wir schon nicht mehr, wo er sich befindet. Vermutlich hat er sich in die lange Schlange der Unsichtbaren und Ausgebeuteten eingereiht, gemeinsam mit den Tausenden unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die in Italien verschwunden sind. Den letzten Schätzungen des Innenministeriums zufolge sind es mehr als zwei am Tag.

Moussa

Moussa ist ein junger Senegalese, der jahrelang in einem Restaurant in Palermo gearbeitet hat, bis seine Arbeitgeber ihn, ohne lange zu zögern, abserviert haben: „Ich war zu allem gut, ich habe in jedem Bereich gearbeitet, manchmal auch 14 Stunden am Tag, und alle mochten mich. Das glaubte ich zumindest oder wollte es glauben: es tat mir gut, mir vorzustellen, dass jemand das Beste für mich wollte, und nicht nur meine starken Arme brauchte um Pakete voller Lebensmittel hochzuheben. Mein Leben hat sich im Restaurant abgespielt: Toiletten sauber machen, Tische aufräumen, Erledigungen nachgehen, nach Ladenschluss das Besteck sauber machen. Sie haben mich gut behandelt, aber als ich um einen Arbeitsvertrag gebeten habe, weil meine Aufenthaltserlaubnis bald ablaufen würde, haben sie mich vor die Tür gesetzt. Sie haben mir gesagt ich sei undankbar, ein Profiteur, ein Dieb. Sie haben mich gedemütigt und auf die Straße gesetzt”.

Derartige Situationen erleben wir im Moment zuhauf, weil die vermeintliche Legalisierung dem Betrug und Spekulationen den Weg ebnet, auf dem Rücken der Migrant*innen. Trotz des Versuchs der Hilfsorganisationen die Menschen zu informieren und sie vorzuwarnen, haben die meisten von ihnen sich am letzten Zipfel Hoffnung festgehalten und sind so Betrug zum Opfer gefallen.

Fred

Fred kommt aus dem Gambia. Er arbeitet in der Landwirtschaft bei Agrigento, zwanzig Tage lang für zwölf Stunden am Tag, um Gemüse zu ernten, zu putzen und zu transportieren. Als Gegenleistung erhält er eine Summe, die vor Arbeitsbeginn ausgemacht wurde, ohne Vertrag, da Fred keine Papiere hat und in Not ist. Am Ende seiner harten Arbeitstage fordert Fred seine Bezahlung ein. Doch der Arbeitgeber will ihm nur 100€ geben und erwartet sogar noch Dank dafür ihm eine Gelegenheit geboten zu haben, die er von niemandem anderen zuvor erhalten hatte. Als Fred sich gegen diesen Betrug und Missbrauch wehren will, wird er von drei Freunden des Arbeitgebers verprügelt. Wir haben davon über einen Bekannten von Fred erfahren, der uns sagte, dass Fred keine Hilfe möchte und kein Vertrauen mehr in die Menschheit hegt. Er lebt weiterhin in der Not, aber mit einer weiteren Verletzung.

Ebrima

Ebrima ist ein junger Mann aus Ghana, zierlich und mit psychischen Problemen, die eine Folge seines Aufenthalts in libyscher Haft sind. Er wird im Maßregelvollzug in die Psychiatrie in Palermo eingewiesen und nach einem Monat wieder entlassen. Niemand benachrichtigt den Freund, der ihn dorthin gebracht hatte, da Ebrima als gesund erachtet wird. Im vollen Lockdown wandert Ebrima wie ein Geist um die Straßen Palermos, weil es ihm nicht gut geht. Er sollte Medikamente nehmen, die sie ihm nur in der psychiatrischen Einrichtung verabreichen können. Ebrima ist schwarz, allein, krank, und durfte keinen Platz im Krankenhaus belegen, er gilt als Abfall in unserer Gesellschaft.

Die übliche schlechte Verwaltung der Ankünfte und der Aufnahme

Entgegen jeglicher Anti-Corona-Maßnahme werden die Migrant*innen in großen Zahlen zusammengebracht und ohne Schutz in der Sonne wie Tiere erniedrigt um eine Antwort zu bekommen oder um hereingelassen zu werden. So geschieht es hinter den Toren des Polizeipräsidiums Palermos, wo die Migrant*innen ohne Sicherheitsabstand auf der Straße warten müssen, nur um zu hören, dass ihr Termin verschoben wurde. Für Viele ist dieser Termin lebenswichtig. Und die Missbrauchsfälle haben mit dem vorgeschobenen Grund der Corona-Pandemie merklich zugenommen. Keinerlei Regeln, willkürliche Praktiken, geringe oder keine Sprach- und Kulturmittlung, und keine Antworten vom Polizeipersonal vor der Tür.

Und es kann sogar vorkommen, dass, wie uns Keita erzählt, nach einem abermaligen Aufschub, die lang ersehnte Aufenthaltserlaubnis endlich ausgestellt wird, nur um festzustellen, dass sie nach etwas mehr als einem Monat schon wieder abläuft. Eine willentliche Rechtsverletzung, die ihre Genehmigung dafür von einer katastrophalen und blinden Politik erhält: „Ich muss schon wieder von Neuem beginnen, es hört nie auf. Die ersten, die die Migrant*innen ausbeuten, sind die Behörden, die Polizei tut es, weil die Politik es ermöglicht. Wir sind nur Spielfiguren und sie spielen mit uns“.

Dass die Migrant*innen für weniger als nichts erachtet werden, erleben wir momentan durch die Zentren, die inzwischen Behältnisse für Menschen geworden sind, die schlimmer als Tiere im Schlachthof zusammengepfercht werden. Auf Lampedusa wurde der Notstand ausgerufen, und 900 Menschen in einem Hotspot festgehalten, der Kapazitäten für 90 hätte. Der Katastrophenschutz hat Zelte vor dem Favaloro Pier aufgestellt, wo die Menschen unterkommen können, während sie darauf warten, nach Sizilien gebracht zu werden. Das Warten in den Zelten kann Tage dauern. Das Abschiebezentrum in Milo und das Aufnahmezentrum in Caltanissetta wurden wieder eröffnet, um den vielen Tunesier*innen in Quarantäne Platz zu bieten. Dazu kommen die vielen anderen Einrichtungen, die mit dem gleichen Zweck in ganz Sizilien genutzt werden, wo Erwachsene und Kinder, Familien und Einzelpersonen gemischt untergebracht sind, und Familien sogar aufgrund der Verlegungen auseinander gerissen werden.

Und da die Rückführungen nur langsam anlaufen, bedeutet das Ende der Quarantäne für die Tunesier*innen bloß, dass sie auf der Straße landen. Dies wird ihnen unter Nennung des „Seven Days“ genannten Dekrets zur aufgeschobenen Rückführung mitgeteilt. Das Ergebnis ist eine hohe Anzahl Unsichtbarer auf dem ganzen Gebiet. Trotz der Nutzung von Einrichtungen an Land werden von der Regierung weiterhin auch Schiffe zur Quarantäne herangezogen, was mit sehr hohen Kosten verbunden ist. Einer schnellen Rechnung können wir entnehmen, dass die Kosten eines Schiffs weitaus höher sind als diejenigen einer Einrichtung an Land.

Und es gibt noch einen letzten Beweis dafür, dass die jetzige Regierung den vergangenen gleicht, wenn es um die katastrophalen Verwaltungsmodalitäten des Aufnahmesystems geht. Die letzte Mail des Zentralen Dienstes SIPROIMI (ehemals SPRAR) teilte mit, dass es möglich ist, Asylsuchende von außerordentlichen Aufnahmezentren (CAS) in SIPROIMI-Einrichtungen zu verlegen. Insofern handelt es sich um eine Rückkehr zu den Zeiten vor den Sicherheitsdekreten, aber nur im Zusammenhang mit der aktuellen Ausnahmesituation, und nicht aus einem Willen heraus, den Schaden wieder gut zu machen, den die aktuelle Gesetzgebung zu verschulden hat. Außerdem befinden wir uns momentan den Zahlen zufolge nicht in einer Ausnahmesituation, doch die Propaganda wird gerade mithilfe von Alarmismus und gefälschten Zahlen aufgebaut.

Wir hätten uns gerne geirrt, aber alles was gerade passiert hat nichts mit dem Coronavirus zu tun und mit der Ausnahmesituation, die wir fast alle erleben. Es ist das Fehlen von Politik, das verantwortlich ist für diese Leere auf gerade den Gebieten, die besonders exponiert sind, das zwischen Migrant*innen und der Lokalbevölkerung Spannungen erzeugt, wie bereits 2011 auf Lampedusa geschehen ist. Die Menschen werden auch von den Unruhestifter*innen mit ihren Erklärungen im Fernsehen dazu ermutigt. Der Ton verschärft sich immer mehr, nicht nur auf Lampedusa, auf das die Scheinwerfer gerichtet sind, sondern auch auf Pantelleria, das diesen Monat ein exponentielles Wachstum an Ankünften erlebt, sowie auf Favignana, auf Marettimo und auf den sizilianischen Küsten, wo vorgestern eine Ankunft am Badestrand verzeichnet wurde, in der Provinz Ragusas.

Leider können wir also von keiner Veränderung weit und breit berichten. Wenn unsere Politiker*innen einen Funken Würde hätten, nur einen Funken, müssten sie ihren eigenen Kindern in die Augen schauen und sich für den Schaden entschuldigen, den sie verursachen, und sich dann schweigend ins Private zurückziehen.

 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

 

*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum
*SIPROIMI: Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati – Schutzsystem für Menschen mit anerkanntem Asylstatus und unbegleitete Minderjährige (Nachfolger der SPRAR-Zentren: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3.000 – 3.500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchtete dienen)
*SPRAR: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3.000 – 3.500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchtete dienen.

 

Übersetzung aus dem Italienischen von Alina Dafne Maggiore