Denn der Zweck heiligt die Mittel nicht
Schikanen der Macht und mit Füßen getretene Rechte
Italien 2019: Man suspendiert eine Lehrerin vom Dienst, weil ihre Schüler*innen den kritischen Geist benutzten, um die Gegenwart zu verstehen; man autorisiert Versammlungen neofaschistischer Gruppierungen, die Roma-Familien in Sozialwohnungen bedrohen und angreifen, man entfernt Transparente, die Dissens ausdrücken, man schreibt Dekrete über die Höhe der Strafen, die für jeden geretteten Menschen anfallen, man nutzt die Instrumente und Ressourcen des Staates, um diejenigen zu verfolgen, die weiterhin im Sinne des Gesetzes, der internationalen Konventionen und vor allem des menschlichen Lebens handeln. Der Kampf gegen die Migrant*innen, der Kampf gegen die Armen, all die Schikanen gegen die, die am wenigsten haben, gehören zur Propagandastrategie jener, die Armut und Prekarität nutzen, um einen Krieg der Schwachen gegen die Schwächsten zu entfachen. Und das in einem Land, in dem die Arbeitslosigkeit und die Abwanderung der Jugend ganze Landstriche leerfegen. Die politischen Entscheidungen sind darauf ausgelegt, Chaos zu stiften, die Menschen noch ärmer zu machen und sie an der kurzen Leine zu halten, sie in die Verzweiflung zu treiben und so vom Denken abzuhalten – was ein sinnvolles Ziel für jemanden ist, der nicht den blassesten Schimmer davon hat, was es heißt, verantwortungsvoll eine Gemeinschaft zu verwalten.
Und während weiterhin keine einzige der gegen die NGOs (auf Kosten der Steuerzahler*innen) geführten Ermittlungen auch nur das kleinste Zeichen der Fundiertheit zu geben in der Lage ist, ertrinken Menschen im Meer, nur weil sie die Flucht ergriffen und nach Rettung und Sicherheit gesucht haben. Wie Neiba, Mutter eines vor einigen Monaten auf dem Meer umgekommenen Jungen, stark und verzweifelt betont: „Keine Mutter würde den eigenen Sohn in ein Boot setzen oder die Wüste durchqueren lassen, wenn nicht das Leben zuhause, im eigenen Land, unhaltbar wäre. Wir Mütter sterben zweimal: ein erstes Mal, wenn wir alles tun, um ihr Leben zu retten und sie also ziehen lassen, ein zweites Mal, wenn wir keine Nachricht mehr empfangen, weil das Meer dem politischen Willen Folge geleistet hat. Das Meer raubt uns unsere Kinder, die doch keine andere Schuld als die Armut haben. Und das Leben von uns Müttern ist genau an diesem Punkt zu Ende. Keine Mutter der Welt würde das einfach so zulassen, macht euch das ein für alle Mal klar, keine einzige. Ich bin schon seit einiger Zeit tot. Und ihr habt es so gewollt.“
Denjenigen, die nicht das Leben verloren haben, wird die Hoffnung auf eine bessere Zukunft genommen. So war es im Fall von Amry. Der junge Tunesier mit den grünen Augen, der davon träumte, in Europa Model zu werden, kam letzte Woche mit einer der sogenannten Geisterlandungen an der sizilianischen Küste an. Zusammen mit 20 weiteren Personen wurde er abgefangen und ins Abschiebezentrum nach Milo gebracht. Ein Verwandter von Amry, der mit uns Kontakt aufnahm, war einerseits froh darüber, Amry am Leben zu wissen, andererseits sorgte er sich sehr, denn es war schon das zweite Mal, dass Amry das Mittelmeer zu überqueren versuchte. Tatsächlich hat es auch dieses Mal nicht geklappt – am vergangenen Donnerstag wurde Amry mit einem Flugzeug aus Palermo zurück nach Tunis gebracht, wo nun viele unheilvolle Konsequenzen auf ihn warten. Abzubezahlende Schulden, größtmögliche Armut, Verstoßung durch die Familie, die sich verschuldete, um ihm die Reise zu ermöglichen: „Für uns ist er tot, wir wollen nichts mehr davon hören.“
Was mit dem Aufnahmesystem geschieht
Während es in den Zeitungen von Erklärungen, die mehr oder weniger direkt mit der Wahlkampfpropaganda zusammenhängen, nur so wimmelt, berichtet niemand davon, was in Wahrheit auf dem Territorium geschieht. In den sizilianischen Präfekturen zum Beispiel ist ein kontinuierlicher Abbau des qualifizierten Personals für Einwanderungsfragen zu beobachten, was zu immer skandalöseren Verzögerungen bei den administrativen Vorgängen führt. Zahlungsvorgänge brauchen oft länger als ein Jahr. Wenn es hingegen darum geht, Aufenthaltsgenehmigungen zu widerrufen und gute Aufnahmepraktiken zu verunmöglichen, mangelt es an Eifer und Effizienz keineswegs. Die Aufnahmezentren können nun selbst über ihr Vorgehen und ihre Handlungsstrategien entscheiden, was dazu führt, dass sie qualifizierte Mediator*innen und andere Beschäftigte entlassen und das Leben in den Einrichtungen unerträglich machen. In vielen Präfekturen wird ständig das Leitungspersonal ausgewechselt, was die Verwirrung und Verzögerung natürlich nur weiter steigert, da die neuen Kräfte oft keine Erfahrung im Bereich Migration haben. In Palermo zum Beispiel hat es in vier Monaten vier verschiedene Bereichsleiter gegeben. In Trapani gibt es einen neuen Präfekten und einen neuen Kabinettsvorsteher, und in Enna sitzt auch ein neuer Präfekt, der zuvor in Palermo war. Alles Vorgehensweisen und Strategien, die den Apparat nach Aussage der Mitarbeiter*innen beinah zum Erliegen bringen. In den wenigen erhalten gebliebenen Aufnahmezentren befinden sich vor allem Berufungskläger*innen, die Anhörungstermine für 2021 oder später haben – was dazu führt, dass sich viele Asylsuchende aus dem Staub machen: unmöglich, so lange in diesen Einrichtungen zu leben.
Was die Wettbewerbsausschreibungen [gemeint sind die Ausschreibungen zur Betreiberschaft eines Unterbringungszentrums, Anm. der Red.] anbetrifft, haben die sizilianischen Präfekturen unterschiedliche Strategien: In Palermo und Messina laufen derartige Ausschreibungen, und die aktiven Aufnahmezentren werden weiterhin nach den Maßgaben der Vertragsbedingungen finanziert: 30€ plus Mehrwertsteuer am Tag pro Bewohner*in. In Trapani und Caltanissetta wurde der Vertrag mit den aktuellen Betreibern verlängert, weil die neue Ausschreibung für die Zentren mit veralteten Daten veröffentlicht wurde und nun erneut ausgearbeitet werden muss. In Agrigent gibt es seit Jahren keine Ausschreibung mehr, die letzte wurde zurückgezogen. Die Betreiber der Zentren haben allerdings eine Interessensbekundung akzeptiert, die die Tarife in Erwartung der offiziellen Ausschreibung auf 24€ ab März 2019 festlegt. Aus Enna und Ragusa weiß man nichts Eindeutiges, auf den offiziellen Seiten findet man von Ausschreibungen, Fördermitteln oder ähnlichem keine Spur. In Catania ist man gerade dabei, das Aufnahmezentrum für Asylsuchende von Mineo zu räumen – man darf also gespannt sein, wie sich die Regierung hier noch Wähler*innenstimmen erkaufen will, denn jetzt sind da erstmal 1200 Personen, die sehr wütend darüber sind, ihre Arbeit verloren zu haben. In Syrakus muss eine Ausschreibung, die Ende 2018 bearbeitet wurde, nun revidiert werden, da auch sie veraltete Daten enthielt, auch wenn aus der Internetseite der Präfektur nicht hervorgeht, was passieren wird. Außer Frage steht, dass bei all diesem Verzug nur einige Aufnahmezentren erhalten geblieben sind, während andere voreilig und hastig geschlossen wurden – auf Kosten der Personen, die man ohne Rücksicht auf ihren Integrationsprozess transferierte und ihnen kurzerhand das Aufnahmerecht entzog, wenn sie sich weigerten, das Zentrum zu verlassen.
Speziell ist die Situation in den Abschiebezentren von Milo und Caltanissetta sowie in den Hotspots von Messina und Lampedusa. Hier laufen die Ausschreibungen, und die bisherigen Zuständigkeiten werden in Verlängerung der alten Förderabkommen weitergeführt. Fortwährend lässt man ‚Renovierungsmaßnahmen‘ durchführen – Gelder, die dafür ausgegeben werden, diese Einrichtungen in rechtsfreie Gefängnisse zu verwandeln.
Die wenigen noch aktiven Zentren für Minderjährige warten teilweise seit zwei Jahren auf die ausstehenden Fördergelder der Kommunen. Die Betreiber*innen sehen sich nicht selten gezwungen, die Kredite bei der öffentlichen Verwaltung an Finanzdienstleistungsinstitute zu verkaufen, um weiterarbeiten zu können.
Vor diesem Hintergrund bleiben die Migrant*innen sich selbst und ihrer Erschöpfung überlassen. Sie werden in Italien oder anderswo unsichtbar. All jene zum Beispiel, die von Mineo nach Palermo und Trapani gebracht wurden, sind nur wenige Tage und Wochen in den neuen Einrichtungen geblieben und haben dann die Flucht ergriffen. Wer bleibt, verzweifelt an Anhörungsterminen in frühestens zwei Jahren. Vor allem die Minderjährigen bleiben in den allermeisten Fällen nur kurz, dann verlassen sie die Aufnahmeeinrichtungen. Vor allem die jungen Tunesier*innen. Was das Schicksal derjenigen betrifft, die in Lampedusa und Augusta an Land gegangen sind und dann nach Villa Sikania oder Messina gebracht wurden, sind wir ratlos.
Sie nehmen uns alle Chancen und Rechte; sie wollen, dass wir gewalttätig werden; sie wollen uns auslaugen. Deswegen dürfen wir jetzt erst recht nicht aufgeben und uns zur Gewalt verleiten lassen, die sie uns aufzwingen wollen, indem sie uns festnehmen und uns Handschellen anlegen, wenn wir unsere Rechte einfordern. Wir müssen weiterhin mit unseren Waffen Widerstand leisten. Unsere Waffen heißen Solidarität und Gerechtigkeit. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass der Zweck die Mittel nicht heiligt.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack