Jalilas Kampf ist auch unser Kampf

Artikel vom 3. Mai 2021

Vor einigen Tagen konnte Jalila die Leichname ihrer Söhne Hedi und Mehdi nach Hause bringen. Ihre Söhne verstarben beide bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer, als sie versuchten, nach Italien zu gelangen. Dank Jalila sind die zwei jungen Männer nun keine namelosen Schiffsbrüchigen mehr.

Jalilas Geschichte ist ein bedeutender Beitrag im Kampf gegen die Grenzpolitik aufgrund derer Menschen sterben. Es ist auch eine Form, die Verschleierung von Zeugenberichten anzuprangern und zugleich ist es ein Beitrag zur Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses über die Tragödien des Mittelmeers. Ein Kampf, um sich dagegen aufzulehnen, dass Geschichten von Migrant*innen unsichtbar gemacht werden und ihnen ihre Rechte verwehrt werden.

 

Jailias mutige Reise

Hedi und Medhi, zwei junge Tunesier im Alter von 24 und 22 Jahren, verließen Biserta in einem kleinen Boot im November 2019 mit dem Ziel, nach Italien zu gelangen. Die Leichname der beiden Schiffsbrüchigen wurden zu Beginn des Jahres 2020 an der sizilianischen Küste zwischen den Provinzen Palermo und Messina wiedergefunden. Jalila erkannte ihre Söhne anhand ihrer Tätowierungen auf den Fotos wieder, die von der Staatsanwaltschaft der sizilianischen Gemeinde Termini Imerese verbreitet wurden.

Daraufhin setzte Jalila all ihre Hebel in Kraft. Sie nahm Kontakt zu italienischen Behörden auf, recherchierte im Internet, fragte solange bei tunesischen und italienischen Institutionen nach, bis sie Antworten erhielt. Dabei wurde sie von der Rechtsanwältin Serena Romano unterstützt, die sich auch für Gerechtigkeit in der Aufklärung der weiteren Todesfälle, die es in diesem Schiffsunglück gegeben hat, einsetzt.

Nach dem biologischen Abgleich mittels eines DNA-Tests und der einhergehenden Bestätigung der Identitäten von Hedi und Mehdi nutzte Jalila ihren Schmerz als treibende Kraft, um ihre Söhne zurück in ihre Heimat zu bringen. Von Tunesien aus hat sie ihre Geschichte in Italien verbreitet. Hedi und Mehdi träumten wie viele andere von Europa. Ihnen blieb jedoch eine sichere Reise verwehrt.

Vor ihrer Abreise aus Tunesien sagten die beiden ihrer Familie: „Wir möchten raus aus diesem Gefängnis. Wir möchten in eine neue, lebenswerte Welt“.

Sie sind im Meer verstorben sowie ihre Reisegefährten Kais, Enis und Akram und bereits Tausende vor und nach ihnen.

Jalila gelang es schließlich, ein Visum von der Botschaft zu erhalten und sie überquerte das Meer, in dem ihre Söhne untergingen. Nach ihrer Ankunft in Palermo konnte Jalila dank der Arbeit der Rechtsanwältin Serena Romano die rechtlichen und bürokratischen Angelegenheiten für den Rücktransport der Leichname abschließen. So konnte sie die beiden Söhne zurück zu ihrer Familie bringen, zu ihrem Vater und Jalilas anderen Tochter Nourhene. Nach so viel Leid ist Jalila schließlich gemeinsam mit ihren beiden Söhnen in ihre Heimat Biserta zurückgekehrt und hat mit ihnen das Meer überquert, das ihr die beiden wegnahm.

Am Mittwoch, den 28. April, fand die Beerdigungszeremonie statt und die Leichname der beiden Brüder konnten an dem Ort begraben werden, an dem sie geboren sind, mit ihren Namen und Geschichten.

Jalila hat sich ihre Söhne zurückgeholt und sie vor einem anonymen Tod gerettet. So wurden namenlose Baren wieder zu Menschen, an die erinnert wird. Sie hat ihre Geschichten sowie die Gründe und die Verantwortung für diese Tode offenbart. Jalila hat die Kriminalisierung ihrer Söhne bekämpft, die in den Zeitungen als Drogenschmuggler dargestellt worden waren. Sie hat die vermeintliche Beziehung der beiden Söhne zum internationalen Drogenhandel widerlegt und die wahre Kriminalität in dieser Geschichte aufgezeigt, nämlich die Todespolitik, die an den europäischen Grenzen herrscht.

All dies hat Jalila mit größtem Mut und der Unterstützung der folgenden Vereine umgesetzt: Carovane Migranti, Accoglienza ControVento, Rete Antirazzista Catanese, Borderline Sicilia, LasciateCIEntrare, Forum Antirazzista Palermo.

Um die Kosten der Exhumierung und des Rücktransports decken zu können, hat Jalila zudem ein Fundraising – das bereits abgeschlossen wurde – eröffnet, womit sie die nötigen Gelder dank bedeutender Privatspenden und Spenden von solidarischen Vereinen aufbringen konnte. Auf diese Weise haben zahlreiche Personen einen Beitrag dazu geleistet, dass dieser kleine Akt der Gerechtigkeit vollbracht werden konnte.

 

Die kollektive Erinnerung der tunesischen Frauen

Mit ihrer unglaublichen Willensstärke hat sich Jalila während ihres Aufenthaltes in Sizilien auch für andere tunesische Frauen, wie Awatef, Fatma und Raja eingesetzt, die auch nach ihren Söhnen, Töchtern und Brüdern suchen.

Während sie für ihre eigenen Söhne kämpfte, dachte Jalila zugleich an die Söhne der anderen und versuchte, andere Frauen zu unterstützen, indem sie Informationen über ihre verschwundenen Familienangehörigen sammelte. Sie hat sich selbst auf die Suche begeben, denn: „Mütter müssen kämpfen. Sonst geschieht nichts. Wir Mütter üben Druck aus. Wir bestehen darauf, die Wahrheit zu erfahren. Wenn ein Weg nicht der Richtige ist, schlagen wir einen anderen ein, um eine Lösung zu finden. Wir sind Mütter und wollen Gerechtigkeit für unserer Familien“.

Und so war es. Jalila erzählte, dass sie sich, zurück in Tunesien, mit anderen Müttern der sogenannten „Disparus“ getroffen habe. Sie hat die Idee, eine gemeinsame Erinnerung über die Geschichten der Söhne und Töchter zu schaffen und so den Verlusten durch Engagement einen Sinn zu verleihen, der im Kontrast zu der barbarischen und unmenschlichen Politik steht. Jalila betont: „Meine Söhne waren die treibende Kraft der Suche, nun sollen sie zum Motor der Gerechtigkeit für alle Söhne und Töchter des Mittelmeers werden. Angesichts dieser Verbrechen können wir nicht untätig bleiben“.

Und so hat Jalila angefangen, zu nähen. Mit dem Faden in der Hand hat sie begonnen, ihre Geschichte als Teil der unendlichen Decke von Yusuf, einer Initiative, die auf Lampedusa im Rahmen des Forum Lampedusa Solidale entstand, zu erzählen.

Während sie nähte, begann sie damit ihre Erinnerung mit derjenigen anderer Familien und Mütter, die ähnliche Tragödien in der sogenannten Straße von Sizilien und auf dem Mittelmeer erlebt haben, zu verbinden.

 

Der Kampf für die Verstorbenen des Mittelmeers ist unser aller Kampf

Oftmals wird vergessen, dass dieser Kampf nicht nur mit der Würde und dem Respekt für die im Mittelmeer Verstorbenen zusammenhängt, sondern auch ein Kampf für die Lebenden darstellt. Denn die auf der Flucht Verstorbenen wurden Opfer einer Gewalt, die auf ihre Familie und Bekannten zurückfällt.  Es ist ein dringender Kampf. Denn er ist damit verbunden, dass Menschen auf Antworten warten, dass sie beten, um Gewissheit darüber zu erlangen, ob ihre Familienangehörigen noch am Leben sind. Ein Kampf von Menschen, die hoffen, die Leichname der Verstorbenen zurückzubringen oder in einer Zeremonie von ihnen Abschied nehmen zu können und die an Institutionen, die oftmals schweigen, appellieren und sich fragen, wie alles verlaufen wäre, wenn diejenigen Frauen und Männer, die das Meer überquerten an einem anderen Ort auf der Welt geboren worden wären. An einem Ort, an dem die freie Bewegung keine Straftat darstellt.

Aber es ist auch ein Kampf all derer, die das Privileg haben, am anderen Ufer des Mittelmeers zu leben. Es ist nicht nur ein Kampf derjenigen, die einen unmittelbaren Verlust erlebt haben, sondern auch all derer, die auf direkte oder indirekte Weise Zeug*innen geworden sind. Ein Kampf derjenigen, die diese Unmenschlichkeit nicht mehr ignorieren können und das Recht auf Bewegungsfreiheit verteidigen. Derjenigen, die sich der Tatsache widersetzen, dass im Mittelmeer Rechte sprichwörtlich ertrinken und verdeutlichen, dass die Geschehnisse im Mittelmeer nicht vergessen werden dürfen, da sie ein Teil unserer Geschichte sind.

Ein gemeinsamer Kampf von uns allen, die wir uns gegen die Vernichtungspolitik an den Grenzen auflehnen und den faschistischen und rassistischen „Sicherheitswahn“, durch den Migrant*innen getötet werden, nicht weiter fortschreiten lassen werden. Denn diese Tode sind keine individuellen Verbrechen, deren Leidtragende einzelne Familien sind, sondern es sind Tode, die eine politischen Verantwortlichkeit mit sich tragen und uns alle betreffen.

Aus diesem Grund ist die Unterstützung im Kampf um die Anerkennung und die Erinnerung der Verschwundenen kein zweitrangiger Kampf. Es ist die einzige Möglichkeit, um einer historischen Verdrängung die Stirn zu bieten und um sich nicht mit der Gewalt an den Grenzen abzufinden und auf keinen Fall zu Kompliz*innen einer Entmenschlichung der Migrant*innen und der Desintegration zu werden und sich gegen das Prinzip der Ungleichheit, das die europäische Nekropolitik unterstützt, aufzulehnen.

Genau aus diesem Grund ist Jalilas Kampf auch unser, aktiver Kampf, um ein gemeinsames Gedächtnis zu schaffen, um dagegen vorzugehen, dass die Leere dieser Verluste gefüllt wird, die Wunden vernarbt werden, die Verantwortlichen weiter unbestraft bleiben und die Wahrheit verdrängt wird.

 

Wahrheit und Gerechtigkeit

Nach ihrer Heimkehr bedankte sich Jalila aus tiefstem Herzen bei ihren italienischen Freund*innen für die Gastbereitschaft. Mit Wut denke ich daran, dass ihren Söhnen diese Gastbereitschaft verwehrt wurde, jedoch Jalila zum Glück zuteil kam. Ihr wurde eine menschliche und politische Unterstützung entgegengebracht, die der Leere des Verlustes gegenübersteht. Von ihrer Rechtsanwältin, die nach wie vor auf der Suche nach Gerechtigkeit ist, wurde Jalila auf unglaubliche Weise verteidigt. Unterstützung erhielt sie auch von unterschiedlichen Vereinen, die sie niemals allein ließen und anderen solidarischen Personen aus ihrer Nähe und Ferne, die sie stets ermunterten.

Wir schulden es dir Jalila: Wir werden deine Stimme lauter werden lassen, wir unterstützen deine Initiative, wir werden deinen Schmerz und deinen Mut nicht vergessen und sie auch zu unseren machen.

Deine Erinnerung werden wir als wertvolles Zeichen des Widerstandes aufbewahren, indem wir diese Geschichte der Gewalt weitererzählen werden.

Wir versprechen dir, dass wir angesichts dieser Vernichtungspolitik – welche in der Geschichte eines Tages als solche anerkannt werden wird – niemals gleichgültige Zuschauer*innen seien werden. Wir sind deine Verbündeten im gemeinsamen Kampf für die Rechte der Migrant*innen, die an den Grenzen getötet wurden. Wir stehen stets an deiner Seite für Wahrheit und Gerechtigkeit ein.

 

Silvia Di Meo
Borderline Sicilia

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Romina Willer