Frauen und Migration: Zwischen aktiver Erinnerung und Solidarität
Artikel vom 15. März 2021
Migrant*innen sind Opfer von Rückführungen, sie werden an den Grenzen getötet oder verschwinden entlang der Migrationsrouten. In Anbetracht dieser systematischen Gewalt gegen Migrant*innen stellt das Engagement von Frauen, selbst Migrantinnen, Aktivistinnen, Mütter und Schwestern, einen grundlegenden Beitrag der Bezeugung und Anprangerung der Grenzorte durch Praktiken der aktiven Erinnerung und Solidarität dar.
Missing migrants im Mittelmeer und die Suchaktion der Frauen
250 tote Migrant*innen im Mittelmeer bestätigt die Internationale Organisation für Migration (IOM) seit Anfang 2021. Unter diesen Toten sind auch viele Migrantinnen. Die IOM hat deshalb gerade in den vergangenen Tagen, rund um den Tag der Frau am 8. März, an die tausenden Kinder und Frauen erinnert, die entlang der Migrationsrouten ums Leben gekommen sind oder vermisst werden. Laut diesen Daten sind seit 2014 mindestens 1.074 Migrantinnen im Mittelmeer gestorben oder sie gelten als vermisst.
Doch nicht nur die Überfahrt über das Mittelmeer wird vielen Frauen zum Verhängnis. Einmal auf Sizilien angekommen werden viele von ihnen Opfer des gewaltsamen und ghettoisierenden Aufnahmesystems. Ein Beispiel dafür ist der Tod von Souad, der nur wenige Tage her ist. Die Tunesierin, die unter psychischen Problemen litt, wurde auf dem Quarantäne-Schiff Adriatica festgehalten. Als die Frau dann auf das Festland durfte, stürzte sie sich aus dem Fenster des Aufnahmezentrums, das sie eigentlich aufnehmen sollte.
Als Monitoringstelle für Sizilien sowie für die Migrationsroute über das zentrale Mittelmeer, beobachten wir die regelmäßigen und kontinuierlichen Bootsunglücke. Kleine und große Boote starten an der libyschen oder an der tunesischen Küste; ihr Ziel, die sizilianische Küste, erreichen aber nicht alle. Zudem können die Personen an Bord immer öfter nicht rechtzeitig gerettet werden. Eine fundamentale Rolle spielen dabei die Kriminalisierung der NGOs, die Blockade der humanitären Rettungsschiffe und die Aussetzung der wichtigen „search and rescue“-Operationen im Mittelmeer, die der Todespolitik der EU etwas entgegensetzen und zahlreiche Leben retten könnten.
Gerade in diesen Tagen erfolgen rechtliche Ermittlungen gegen die NGO Mediterranea. Die Staatsanwaltschaft von Ragusa beschuldigt vier Personen der Begünstigung illegaler Einwanderung sowie der Missachtung des Seefahrtsrechts.
Zum letzten Schiffsunglück im Mittelmeer soll es in der Nacht vom 8. März in tunesischen Gewässern gekommen sein. Das Boot war in Sfax gestartet und wollte Lampedusa erreichen. An Bord befanden sich vor allem Migrant*innen aus Subsahara-Afrika. Am 9. März berichteten die Zeitungen, dass 193 Personen von der tunesischen Küstenwache gerettet wurden und mindestens 39 Personen ihr Leben verloren hatten, darunter mehr als neun Frauen und vier Kinder.
Diese Tragödien treffen vor allem auch die Familien der Migrant*innen, die im Herkunftsland zurückgelassen wurden. In der Tat ist Migration fast immer ein Kollektiv- oder ein Familienprojekt, bei dem ein Familienmitglied sich auf die gefährliche Reise nach Europa macht, mit dem Traum irgendwann die zurückgelassene Familie unterstützen zu können. Mit der Todesnachricht verliert die Familie nicht nur einen geliebten Menschen, die Nachricht hat für die Zurückgebliebenen auch wirtschaftliche und soziale Folgen, denn im Herkunftsland erhalten betroffene Familien keine öffentlichen Hilfen. Zudem erhalten sie keinerlei Informationen über ihre Verwandten oder Hilfe bei der Meldung an die zuständigen Stellen.
Zu den Zurückgebliebenen, die in den vergangenen Jahren einen geliebten Menschen verloren haben, gehört Daoudi. Die Tunesierin sucht seit Juli 2020 ihren 26-jährigen Sohn Hamdi Besbe, einem Mechaniker, der auf einem kleinen Boot im Sommer nach Lampedusa gekommen war, und seither vermisst wird. Seit sieben Monaten versuchen wir Daoudi bei ihrer schmerzhaften Suche nach ihrem Sohn zu unterstützen. Sie hat an Kundgebungen in Tunesien teilgenommen und sie hat dazu aufgerufen, Wahrheit und Gerechtigkeit für ihren vermissten Sohn sowie für alle im Mittelmeer verschwundenen Menschen zu finden.
Jalila, eine weitere tunesische Mutter, hat angefragt nach Palermo kommen zu dürfen, um der Exhumierung und Rückführung der Leichen ihrer beiden Söhne beizuwohnen. Mohamed Hedi und Mardi Hedi sind 2019 bei einem Bootsunglück vor den Küsten Siziliens ums Leben gekommen. Jalila ist nicht allein, ihre Tochter Nourhene und die Verlobte einer ihrer Söhne sind bei ihr, und zusammen erinnern sie an die Geschichte der beiden jungen Männer.
Und es gibt noch unzählige weitere Mütter und Schwestern, wie Anissa, Fatma, und Amal, die nach vermissten Verwandten suchen, die in Auffanglagern gefangen gehalten werden, in Aufnahmezentren stecken oder auf einem Quarantäneschiff blockiert sind. In Tunesien haben sich die Frauen bereits vor Jahren zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Seither fordern sie Wahrheit und Gerechtigkeit über das Verschwinden und über die Gewalttaten, zu denen es auf dem Mittelmeer kommt. In ihrem Kampf werden sie von verschiedenen italienischen Organisationen unterstützt.
Tunesierinnen und Italienerinnen, Europäerinnen und Afrikanerinnen prangern mit ihren Aktionen und mit ihrer Stimme die europäische Todespolitik an.
„Eine Brücke aus Körpern“ und die Frauen an den Grenzen
Der unermüdliche Kampf dieser Frauen schließt sich mit dem Manifest „Eine Brücke aus Körpern“ zusammen, das von Lorena Fornasir verfasst wurde und aus dem eine Initiative entlang mehrere Grenzen Italiens und Europas entstanden ist, und am 6. März stattfindet.
An jenem Tag bildeten die Körper von Frauen und Männern, von Triest bis nach Ventimiglia, von Claviere bis nach Sizilien, sowie in Berlin, Irland und in den Niederlanden, symbolische Brücken, um Grenzen zu überschreiten. Dabei wurde die Gewalt an Migrant*innen angeprangert und die Bewegungsfreiheit eingefordert.
Die Hauptfiguren waren solidarische Frauen, an die sich auch den Aufruf von Lorena richtete. Das Ziel dabei war es die Aktivistinnen an den Grenzen mit den Müttern und Schwestern der Migrant*innen, die im Herkunftsland warten, zu vereinen.
Lorena kümmert sich in Triest um Migrant*innen die entlang der Balkan-Route Verletzungen erlitten haben. Sie und ihr Mann Gian Andrea Franchi sind die Gründer des Vereins Linea D’Ombra (Schattenlinie), der Migrant*innen unterstützt, indem sie medizinisch versorgt werden, die Zeichen ihrer Folter geheilt, ihnen Essen und Hilfe angeboten werden. Dieses politische und humanitäre Hilfsangebot gilt jenen Migrant*innen, die es trotz der vielen Rückführungen in Slowenien und der von der EU und von Frontex finanzierten Gewalttaten der kroatischen Polizei, nach Triest schaffen. Für ihre Arbeit und ihren solidarischen Einsatz an der Grenze wurden Gian Andrea und Lorena vor kurzem der Begünstigung der illegalen Einwanderung beschuldigt: Auch in Triest wurde die Solidarität zum Verbrechen.
Am Höhepunkt der Ereignisse, am 6. März, wurden auch auf Sizilien, dem südlichsten Grenzpunkt der „Festung Europa“, Initiativen zum Tag der „Brücke aus Körpern“ organisiert. In Catania, in Palermo und in Syrakus haben solidarische Frauen und Männer Pressekonferenzen abgehalten, um an die hier angewandte Politik der Gewalt, an die Toten auf See, an die Blockade der Rettungskräfte und an die Absonderung gegenüber Migrant*innen während der Pandemie und davor zu erinnern. Dabei traten die Anwesenden für Fürsorge, für Präsenz an den Grenzen sowie für Erinnerungsarbeit als Praktiken des Widerstands und des Kampfes ein.
Suchen, bezeugen und anprangern
Die Erinnerungsarbeit rund um die Geschehnisse auf beiden Seiten des Mittelmeers wird immer wichtiger. In Sizilien erhalten wir täglich Vermisstenmeldungen von Personen, die sich über das Mittelmeer auf den Weg nach Norden gemacht hatten. Es handelt sich um Verwandte, meistens Mütter und Schwestern, die nach einer geliebten Person suchen. Jeden Tag werden wir deshalb aktiv, wir knüpfen Kontakte, wir versuchen Antworten zu geben, hören uns Geschichten und Zeugenaussagen an, wir kontaktieren Behörden und Organisationen und begeben uns selbst auf die Suche nach Antworten auf diese unbestatteten Schmerzen.
Es gelingt uns nicht immer Antworten zu liefern, oder die richtigen Wege zu weisen. Wir können auch nicht immer mit Gewissheit sagen, ob eine Person tot ist, ob sie im Krankenhaus liegt oder wohlauf ist, oder ob sie im Mittelmeer ums Leben gekommen ist. Wie sehr wir uns auch dem Schleier der Gleichgültigkeit widersetzen, die Personen verschwinden weiterhin und die zuständigen Ämter bemühen sich nicht um das Aufspüren der Verschwundenen an den Grenzen.
Aus diesem Grund ist die Erinnerungsarbeit enorm wichtig. Vor wenigen Tagen waren wir gemeinsam mit anderen Aktivist*innen am muslimischen Friedhof von Messina und haben Blumen auf das Grab von Abdallah Said gelegt. Der Minderjährige aus Somalia war in Catania an einer Gehirnentzündung verstorben. Sein Gesundheitszustand hatte sich zuvor auf dem Quarantäneschiff verschlechtert, wo Said unangemessenen Bedingungen ausgesetzt war.
An diesem Tag am Friedhof haben wir gemeinsam mit mehreren jungen Männern aus Gambia auch der Bestattung von Illah Dansoko beigewohnt. Der Junge aus Gambia verstarb in Catania, im Stadtviertel von San Berillo, wegen des schlecht funktionierenden Gesundheitswesens und Staatsrassismus.
Wir haben Blumen und eine Karte mit ihren Namen und ihren Geburts- und Sterbedaten auf die Gräber gelegt und so an ihre Geschichten erinnert. Aus Respekt vor ihrer Würde und ihren Rechten sammeln wir diese sinnbildlichen Beweise der europäischen Verantwortung. Trotz des beschwichtigten Gewissens und der mitschuldigen Behörden machen wir geltend, dass sich die echten Verbrechen nicht hinter den Praktiken solidarischer NGOs verbergen, sondern hinter der europäischen Migrationspolitik, die entlang der Grenzen, auf den Quarantäneschiffen und in europäischen Städten angewandt wird.
Aktive Erinnerungsarbeit als verändernde Praxis
Die Vervielfachung der migrationsfeindlichen Zonen hat die Rückführungspolitik und das tödliche Versagen geschaffen sowie ansteigen lassen. Von der Mittelmeergrenze bis zur Balkanroute repräsentiert das wertvolle Engagement von Frauen wie Lorena oder wie Daoudi weiterhin eine Form des Widerstandes gegen die Gleichgültigkeit dieses Systems, das die Menschlichkeit der Migrant*innen zu zerdrücken droht. Ohne ihren Einsatz und den Kampf um Anerkennung würden diese Menschen und deren Körper, nicht nur ihren Familien entrissen werden, sondern auch in Vergessenheit geraten und in der Anonymität verschwinden.
Indem die Frauen ihren individuellen Schmerz zusammentragen und ihre mutigen Stimmen verstärken, findet die Anprangerung von Missständen und Verletzungen ihren Platz. Verbrechen, die Konfliktzonen und politische Aktionen schaffen, in denen die Anerkennung der Subjektivität der Migrant*innen, ihrer Leben und ihrer Rechte auf dem Spiel stehen.
Indem wir also die Geschichten von Migrantinnen und Migranten sammeln und erzählen, machen wir aus der Erinnerung eine aktive und verändernde Praxis der Zustände der Gewalt im Mittelmeer, mit Hilfe unserer Gegenerzählungen und Solidarität und einer ständigen Beobachtung der Grenze. Unsere Anwesenheit an der Grenze ist Pflicht, mit unseren Körpern und Stimmen.
Silvia Di Meo
Borderline Sicilia
Übersetzt aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner