Die Regierung der Besten und die Kriminalisierung der Solidarität

Artikel vom 9. März 2021

Der Amtsantritt der Regierung Draghi fällt zeitlich mit einer Reihe von Umständen zusammen, die – innerhalb weniger Tage – gerichtliche Maßnahmen zur Kriminalisieren der Solidarität und Unterstützung für Migrant*innen durch Vereine und NGOs in den Vordergrund rücken.

Jede menschliche Geste in Italien wie auch in Europa, zu Wasser wie zu Lande, wird mit allen Mitteln angegriffen, auch dank einer ständigen faschistischen Propaganda, die die Debatte vergiftet und die Informationen und die Wahrnehmung der Nachrichten durch die öffentliche Meinung verschmutzt.

All dies geschieht vor unseren Augen, während in aller Stille das Massaker der Menschen auf der Flucht unvermindert weitergeht. Nach einem weiteren Schiffsunglück vor wenigen Tagen erklärte die Internationale Organisation für Migration (IOM): „Tragödien und vermeidbare Verluste an Menschenleben gehen weiter, während eine Politik des Schweigens und der Untätigkeit fortbesteht“.

Die Pflicht eines historischen Erinnerns in Bezug auf die – in den letzten Tagen erneut mit voller Wucht explodierten – Kampagne der Kriminalisierung von NGOs in den letzten Jahren,  erfordert es, der jüngsten Rücktrittsnachricht des ehemaligen Ministers Minniti aus dem Parlament, mit aller Ernsthaftigkeit zu begegnen. Er wird von nun an die Stiftung Med-Or leiten, die ihrerseits von der Firma Leonardo gegründet wurde, welche Kriegsausrüstung herstellt.

Leonardo S.P.A. ist ein staatliches Unternehmen, das vor kurzem einen Auftrag des Innenministeriums über fast 7 Millionen Euro erhalten hat, für eine Drohne, die das Mittelmeer überwachen soll, mit dem Ziel, von Ausreisen abzuschrecken und Abschiebungen zu fördern. All dies ist in der Praxis gleichbedeutend damit, die Schlepper*innen und die [sogenannte] Libysche Küstenwache weiter mit Aufträgen zu versorgen  und die Menschen auf See sterben zu lassen.

Mit einem Ministerialdekret, der am 18. Februar letzten Jahres veröffentlicht wurde, wurde die Summe von 375.000 Euro für das Jahr 2020 freigegeben, als Beitrag für die Gemeinden Lampedusa und Linosa, Porto Empedocle, Pozzallo, Caltanissetta, Vizzini, Messina, Siculiana und Augusta, um die Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 zu befriedigen und die reguläre Steuerung, einschließlich der Gesundheit, der Migrationsströme zu gewährleisten.

Aus den Informationen, die wir von Menschen erhalten, die den Hotspot Lampedusa durchlaufen haben, wissen wir, dass die Situation dort unmenschlich ist. Menschen kämpfen in der Kälte um eine Schaumstoffmatratze, weil es keine Plätze im Hauptgebäude gibt. Männer, Frauen und Kinder werden in gemischten Schlafsälen untergebracht, haben keinen Zugang zu Unterstützung und zu rechtlichen Informationen. Uns wurde auch die erschütternde Geschichte von zwei Brüdern im Alter von 9 und 11 Jahren erzählt, die von ihrer schwangeren Mutter getrennt wurden – die wegen der Geburt evakuiert worden war – und mindestens 8 Tage lang ohne jegliche Betreuung in einem Zentrum, in dem sich etwa 1.000 Menschen befanden, allein gelassen wurden. Erst nach der Verlegung in eine Einrichtung konnten sie Kontakt zu ihrer Mutter herstellen und Nachrichten von ihr erhalten; ein weiteres Trauma, das zu dem der Reise hinzukam.

Darüber hinaus hat sich ein Großteil des Personals des Polizeipräsidiums, das am Hotspot in Contrada Imbriacola im Einsatz ist, mit dem Virus infiziert und befindet sich auf der Insel in Isolation. Hierhin soll in Kürze ein weiteres Team geschickt werden, mit den offensichtlichen Auswirkungen auf die Arbeit in Agrigento, die ohnehin schon langsam ist. Eine Umgebung voller Desorganisation und Unverständnis auf dem Rücken der Migrant*innen , die nach dem Festhalten auf Quarantäneschiffen und in Covid-Zentren in andere Regionen verlegt werden, wenn sie Glück haben, denn das Risiko, ohne jegliche Erklärung auf der Straße zurückgelassen zu werden, ist stets präsent. Das Verlegen erfolgt auf zwölfstündigen Fahrten, wobei die Menschen ohne Nahrung und Wasser für die Reise gelassen werden.

Die Präfektur und das Polizeipräsidium in Agrigento, die am stärksten belastet sind, haben zahlenmäßig nicht ausreichendes Personal, um die Belastung zu bewältigen, und das spärliche Personal im Dienst verfügt nicht über ausreichende Mittel. Angesichts dieser Unzulänglichkeiten und katastrophalen Situationen nimmt die gleichzeitige Ausgabe von Millionen von Euro für militärische Ausrüstung einen noch beschämenderen Charakter an.

Das Leben in den Zentren wird immer dramatischer, weil sich niemand mehr darum kümmert. Kein Monitoring, keine Kontrolle. So nutzen einige wenige Firmen dies aus und überlassen die Beherbergten ihrem Schicksal, mit der Folge, dass Alkohol und Gewalt an der Tagesordnung sind. Wir müssen eine weitere Schlägerei in einem Zentrum in Sizilien, das auch Familien mit Minderjährigen beherbergt, verzeichnen. Dabei wurde eine Person fast getötet. Kämpfe, die aus der Verlassenheit der Menschen in Einrichtungen am Rande unserer Städte entstehen: Kein*e Vermittler*innen, keine Nachricht über die Verwaltungswege, ein Nichts, das zu Verzweiflung und Gewalt führt.

Die Pandemie hat eine Situation, in der jahrelang immer nur der Notfall praktiziert wurde, nur verschärft und auf die Spitze getrieben. Der Mangel an Aufmerksamkeit für die Vorgänge hat dazu beigetragen, diese zunehmend trostlose und dramatische Landschaft zu schaffen, während die Manöver der Politiker, ohne eine Vorstellung von der Zukunft, das Übrige tun.

Und heute haben wir auch den qualitativen Sprung in Richtung Hass, um alle Formen von Dissens und Opposition gegen zunehmend unmenschliche Maßnahmen zu vernichten, die die Rechte von Menschen, Migrant*innen und Nichtmigrant*innen verletzen.

 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Francesca Barp