Das umstrittene Mittelmeer

Artikel vom 18. Oktober 2021

Wie jeden Monat – seit eineinhalb Jahren – legte am Mittwoch den 29. September ein Quarantäneschiff, die GNV Atlas, im Hafen von Catania an.

Darüber haben wir bereits in den letzten eineinhalb Jahren berichtet, aber dieses Mal hat das Quarantäneschiff seine „Passagier*innen“ nicht in aller Stille an Land gebracht, direkt in einen Bus zu den Aufnahmezentren oder Haftanstalten, die über Sizilien und Italien verstreut sind. Stattdessen war die Landung dieses Mal sehr laut. Tatsächlich wurden mehr als einhundert Personen – hauptsächlich Ägypter*innen, aber auch einige Tunesier*innen und Marokkaner*innen – seit Mittwochmorgen und bis zum folgenden Tag fortgeschickt. In der Hand hatten sie einen Zettel mit der Anweisung, sich innerhalb von sieben Tagen über den Flughafen Fiumicino in Rom von italienischem Staatsgebiet zu entfernen, obwohl viele von ihnen bei mehreren Gelegenheiten geäußert hatten, internationalen Schutz beantragen zu wollen.

Der Platz am Bahnhof von Catania hat sich mit sichtbar müden und desorientierten Personen gefüllt, die nicht genau wussten, wo sie sich befanden, aber genau wussten, was sie wollten: fortgehen. In Kontakt mit Freund*innen oder Verwandten in anderen Teilen Italiens und Europas haben diese Personen am Bahnhof sich autonom organisiert, um ihre Reise auf den europäischen Kontinent fortzusetzen.

Nachdem sie das Quarantäneschiff verlassen hatten, waren sie aber mit den neuen Hygiene- und Gesundheitsregeln konfrontiert. Es ist jetzt notwendig, den Green Pass oder einen negativen Test aus den letzten 48 Stunden zu haben, um die Region mit dem Bus oder Zug zu verlassen. Und obwohl sie vor dem Verlassen des Quarantäneschiffes einem Antigen-Test unterzogen wurden, sind für diejenigen, die nicht am selben Tag noch abreisen konnten, die 48 Stunden am folgenden Morgen verfallen.

In diesem Kontext verwandeln sich die Interessen der italienischen Innenpolitik – so viele Personen wie möglich zu impfen, ohne eine Impfpflicht einführen zu müssen – in die hundertste Barriere für Personen im Transit. Tatsächlich sind die Tests – auch die Antigen-Tests – seit einigen Wochen kostenpflichtig für alle, die keinen Green Pass haben. Das ist ein ernstes Problem, besonders für die, die von der anderen Seite des Mittelmeeres hier ankommen, oft ohne Geld und Dokumente.

Wir als Verein haben logistische Unterstützung für zehn Personen geleistet, die Bedarf nach einem Test hatten, und die nach über fünf Stunden des Kampfes gegen die Bürokratie des Impf- und Testzentrums endlich abreisen konnten.

 

Neue Politiken der Externalisierung

Bereits im Sommer wurden Personen am Bahnhof von Catania gemeldet. Ein Zeichen dafür, dass das System des Migrationsmanagements, das während des letzten Pandemiejahres funktioniert hat, sich von Neuem verändert. Tatsächlich haben die seit Mai ständigen Ankünfte auf Lampedusa und an allen süditalienischen Küsten die schnellen und stillen Übergänge von den Hotspots der Insel zu den Quarantäneschiffen bis hin zu den Zentren erschwert.

Überfüllung, mangelhafte hygienische Bedingungen, Proteste, Fluchten und Anzeigen sind aufeinander gefolgt und haben die italienische Regierung in vollstem Einverständnis mit europäischen Plänen, zu „Innovationen“ gebracht. Diese zielen immer darauf ab, den Prozess der Externalisierung der Mittelmeergrenze zu beschleunigen. Und so hat die Regierung die Abkommen mit Libyen und Tunesien refinanziert. Dabei hat sie beide Küstenwachen gestärkt, welche durch die Zusammenarbeit mit Frontex versuchen, Boote, die das Mittelmeer überqueren, zu blockieren, bevor sie italienische Hoheitsgewässer erreichen können. Die Abkommen werden auf politischer Ebene weitergeführt ohne irgendeine Opposition, während verschiedene italienische Gerichtshöfe seit einigen Jahren Libyen zu einem nicht sicheren Staat erklären.

Am 14. Oktober wurde die Nachricht von der Verurteilung des Kapitäns des Handelsschiffes Asso28 durch das Gericht in Neapel bekannt. Er hatte der libyschen Küstenwache eben gerettete Migrant*innen übergeben. Und Teil dieses Vorhabens, die Grenze zu verschieben, ist, dass in den letzten Monaten – und besonders im vergangenen Frühling – hunderte von Ägypter*innen nach Ägypten abgeschoben oder unerklärlicherweise nach Tunesien deportiert wurden, ein Land, das dreitausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt liegt. Eine illegitime Praxis, die zu der bereits beunruhigenden und besorgniserregenden Umsetzung des Rückübernahmeabkommens hinzukommt, das mit Ägypten im Jahr 2007 unterzeichnet wurde.

Trotz der Fälle Regeni und Zaki und all den gravierenden Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen in Ägypten, führt die italienische Regierung die enge und schändliche Zusammenarbeit mit dem Staat Al Sisis weiter. Das Schicksal, nach Ägypten abgeschoben zu werden, hätte auch die einhundert Personen, die am vergangenen 29. September in Catania an Land gegangen sind, treffen können – nach einer Überstellung in die Abschiebehaft – wenn es nicht einer Mobilisierung von LasciateCIEntrare gelungen wäre, den UNHCR in Bewegung zu setzen. Der Druck auf das Innenministerium diente dazu, die Abschiebehaft und die darauffolgende Abschiebung zu vermeiden, aber es handelte sich dennoch um eine Massenabweisung, die diesen Personen den Zugang zu einem Antrag auf internationalen Schutz versagte.

 

Den Blick verschieben: Was passiert in Nordafrika?

Die Auswirkungen der Verlagerung der Grenze im Süden Siziliens sind bereits offensichtlich und in diesen Wochen haben sich zwei bedeutungsvolle Fälle ereignet. Ende September wurden vier Boote mit Personen aus dem Subsahara-Afrika und drei Tunesier*innen an Bord von der tunesischen Küstenwache abgefangen, kurz nach ihrer Abfahrt von der Küste des Landes. Sofort nach der Anlandung der Boote, wurden die Personen aus dem Subsahara-Afrika mit Gewalt zur Grenze zwischen Tunesien und Libyen deportiert und dort mit auf ihre Gesichter gerichteten Waffen über die libysche Grenze getrieben. Sie wurden in der Wüste zurückgelassen, wo eine Gruppe entführt und eine andere verhaftet wurde und eine Frau ein Kind zur Welt brachte.

Und in Libyen ist die Situation weiterhin dramatisch. In denselben Tagen der Ereignisse, die sich an der Grenze mit Tunesien abgespielt haben und der Anlandung des Quarantäneschiffes, hat eine Razzia der Polizei zur Verhaftung von Tausenden von Migrant*innen in den Außenbezirken von Tripolis geführt – unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung. Die Personen wurden in unterschiedliche Zentren gebracht, wo sie Gewalt erlebten und wo sechs von ihnen bei einem Fluchtversuch von Schüssen der Polizei getötet wurden.

Nach diesen Ereignissen haben Hunderte von Personen – im Laufe der weiteren Tage sind es Tausende geworden – ein Lager vor dem Community Day Center (Cdc) des UNHCR aufgeschlagen, um die sofortige Evakuation aus einem Land zu fordern, in dem ihr Leben gefährdet ist. Ohne eine konkrete Antwort von Seiten der internationalen Organisation, geht die Besetzung inzwischen seit dreizehn Tagen weiter ohne Hinweise darauf, bald zu Ende zu gehen.

Es ist wichtig, Ereignisse wie diese zu erzählen, denn es stimmt nicht, dass man in Nordafrika still leidet und sonst nichts passiert. Der Widerstand existiert in Libyen, genau wie er in Tunesien existiert: Elf tunesische Frauen sind zwischen dem 2. Und dem 7. Oktober nach Italien gekommen, um die Suche nach ihren verschwundenen Söhnen fortzusetzen. Sie wollen die Gewalt der Grenze anprangern, die Menschen tötet und Personen im Meer verschwinden lässt, die Bindungen zerreißt und die Leben von Müttern, Schwestern, Vätern und Brüdern in einem ewigen Schwebezustand auf der Suche nach Wahrheit zurücklässt.

Sie sind gekommen, um die Wahrheit über ihre verschwundenen Söhne und Töchter zu suchen, um die Fäden einer neuen Bindung zwischen den unterschiedlichen Rändern des Mittelmeeres zu spinnen. Diese beginnen mit einem neuen Weg der aktiven Erinnerung, die an Namen und Stimmen der im Mittelmeer Verschwundenen erinnert, Gerechtigkeit fordert und eine Alternative vorbringt. Wir haben sie getroffen und wir haben verstanden.

 

Emilio Caja
Borderline Sicilia

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Sarah Spasiano