Das leise Abschlachten der Menschenrechte
Artikel vom 24. Februar 2021
In den letzten Tagen wurde ein Anstieg der Abreisen aus Libyen und Tunesien verzeichnet. Einige Menschen sind auf Lampedusa und an den sizilianischen Küsten angekommen, andere wurden abgefangen und den Libyern übergeben, wieder andere sind im Meer zu Tode gekommen.
Zeitgleich, als Begleiterscheinung der Abreisen, haben uns verschiedene Hilferufe seitens Familienangehöriger erreicht. Es sind Rufe voller Verzweiflung über das Ausbleiben von Nachrichten ihrer Lieben, die seit Jahren laut gemacht werden.
Blutbäder, die keine Schlagzeilen mehr machen
Die Nachrichten über die Schiffbrüchigen im Meer werden von wenigen Medien aufgegriffen – und wenn, dann wird ihr Umfang immer kleiner. Kaum einer berichtet von den anhaltenden Blutbädern im Mittelmeer, deren Gründe in der Einwanderungspolitik eines Europas wurzeln, das ausschließlich darauf bedacht ist, die eigenen Grenzen abzuschotten.
Über einige Nachrichten herrscht absolutes Stillschweigen. So z.B. über dem Schiffbruch, der sich am vergangenen Wochenende in der Nähe von Pantelleria ereignet hat und mindestens vier Vermisste nach sich gezogen haben soll. Die Familienangehörigen berichten uns von einer Abreise von der Küste Tunesiens, doch nur ein Mann, der 12 Stunden lang in den Gewässern nahe Pantellerias ausharrte, ist lebendig in Sizilien angekommen. Auch wenn die Nachricht nicht von den Behörden bestätigt wurde, soll er sich nun im Krankenhaus von Trapani im Schockzustand befinden.
„Was ist mit meinen Neffen passiert?“, fragt uns eine Tante angstvoll am Telefon – und wir wiederum fragen uns: Warum dieses Stillschweigen? Die Namen der vier Jungen, die traurigerweise mit großer Sicherheit tot sind, sind Adel, Jasme, Ayoub und Mamoune.
Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen auf den Quarantäneschiffen
Die anderen Hilferufe der letzten Tage entstammen dem Kontakt zu den Tunesier*innen, die an Bord des Schiffs Allegra (Todaro di Porto Empedocle) festgehalten werden. Durch Telefonate mit Verwandten sind wir über die Flucht- und Protestversuche an Bord und die Intervention der Ordnungskräfte in Kenntnis gesetzt worden.
Eine junge Frau, die im Kontakt zu ihrem tunesischen Freund an Bord stand, hörte ihn weinen und um Hilfe bitten, nachdem er aus Verzweiflung eine Rasierklinge heruntergeschluckt hatte.
Am Montagabend ist mit der Flucht von vier oder fünf Tunesier*innen vom Schiff alles eskaliert, dies berichten einige junge Männer an Bord. Daraufhin wurden seitens der Polizei stark repressive Maßnahmen den Tunesier*innen gegenüber ergriffen. Ein weiterer Fluchtversuch wurde am Dienstagnachmittag durch die Polizei verhindert, Selbstverletzungen waren die Folge. Die Forderungen der jungen Männer sind klar: „Wir sind drei Tage lang auf Lampedusa gewesen, dann haben sie uns auf dieses Schiff verfrachtet. Seit 10 Tagen sind wir nun hier und bitten um Erklärungen, aber niemand gibt uns eine Antwort. Niemand sagt uns, wie lange wir hier sein werden. Niemand sagt uns, ob sie uns nach Tunesien zurückbringen müssen – nichts, aber auch gar nichts.“
In Porto Empedocle gab es in der vergangenen Woche auch Unannehmlichkeiten: Menschen, einschließlich Frauen und Kinder, die mit triefender Kleidung an Land gegangen waren, mussten für mehr als 10 Stunden in den Zelten des Hafens bleiben. Erst spät in der Nacht wurden sie in die gemischten Covid-Zentren gebracht. Gerade für die Minderjährigen ist diese Situation dramatisch, da es sich bei denen, die ankommen, um Kinder in zartem Alter handelt, die immer jünger und immer einsamer sind.
Ein Schrecken ohne Ende – und wir sind weiterhin unvorbereitet und überlassen alles dem guten Willen des diensthabenden Beamten.
Die Regierung wechselt, doch es wird kein Fortschritt beim Schutz der Rechte der Migranten*innen erzielt. Nicht einmal die Schiffbrüchigen scheinen eine Pressemeldung wert zu sein.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen übersetzt von Katharina F.