„Wir dürfen nicht stehen bleiben“, die Körper der Ankommenden sind von den Grenzen gezeichnet.
„Die Reise war lang. Das nötige Geld habe ich in den letzten Monaten von meinem Lohn auf die Seite gelegt. Zudem hatte ich einen Unfall, bei dem mein Zeigefinger gequetscht wurde. Freunde haben mich in das Krankenhaus gebracht. Dort musste mein Finger amputiert werden. Jetzt geht es mir aber gut. Ich befinde mich in einem Aufnahme-Zentrum, spreche und werde verstanden.“ M. schreibt uns, nach einem Monat des Schweigens, aus seiner neuen Unterkunft in Deutschland. Im Mai wird er 17. Im Juni jährt sich seine Ankunft in Pozzallo zum ersten Mal.
Die Traurigkeit, die Enttäuschung, der Zorn und die Entschiedenheit für seinen Wunsch nach einem besseren morgen haben überwogen. Trotz Empfehlungen und Versuchen hat er das Vertrauen in etwas verloren, was in Italien weiterhin stur ein „Aufnahme“-System genannt wird. Die Interessen der Betreiber zählen, noch zu oft, mehr als die Rechte der Migrant*innen. Die Hinweise auf Misswirtschaft und Vernachlässigung laufen ins Leere. „Glaubst du es gibt ein größeres Risiko, als das meiner Reise von Kamerun nach Italien?“ so lautete seine Antwort, nachdem wir M. vor dem Verlassen der Einrichtung, in der er sich damals befand, gewarnt haben. „Ich trage die Zeichen aller Grenzen, die ich überschritten habe. Ein weiteres Zeichen wird keinen Unterschied machen.“Die Verletzungen an den Körpern und in den Köpfen der Männer, Frauen und Minderjährigen, die entlang der sizilianischen Küste ankommen, führen uns die realen und konkreten Konsequenzen der Politik der Zurückweisung und Schließung der italienischen und europäischen Grenzen vor Augen. Die Verletzungen klagen die Gewalt des „Empfang“-Systems an, das sich immer mehr am Profit und an der Vetternwirtschaft orientiert. Wir sprechen von den sichtbaren und von den unsichtbaren Narben, die bereits bei der Rettung bemerkt werden. Diese wurden durch Folter, Prügel, durch die Misshandlung in Gefängnissen südlich des Mittelmeeres, durch Verbrennungen mit Treibstoff, die Verletzungen von Feuerwaffen sowie durch Unterernährung verursacht. Denken wir an die Traumata, die Misshandlungen und die Ängste, die viele auch im Moment der Ankunft nicht ausdrücken können. Der Mangel an Psycholog*innen und Mediator*innen ist noch immer ein großes Defizit, das die Zuständigen nicht beheben wollen. Dabei fallen viele Migrant*innen in einen depressiven Zustand, weil sie Monate oder Jahre im Ungewissen auf italienische Dokumente warten. Weil sie ins Nichts verbannt und mit falschen Versprechen besänftigt werden. Der Zustand der Unsicherheit und Erpressbarkeit, in dem sich die Ankommenden befinden, ist das genaue Gegenteil der soziale Inklusion, die gefördert werden sollte.
Am Sonntag, den 2. April, erreichte das Schiff Golfo Azzurro, mit rund 220 Migrant*innen nigerianischer, bengalischer und gambischer Herkunft an Bord, den Hafen von Augusta. Damit bestätigt sich Augusta als der Hafen mit den meisten Ankünften seit Jahresbeginn. Wir hoffen, dass die Migrant*innen, zwischen den Identifizierungsmaßnahmen, den Untersuchungen und den ermüdenden Verhören durch die Polizei, mindestens das Glück hatten, die Situation, in der sie sich befinden, besser zu verstehen. Hier sprechen wir von einer Zufälligkeit und nicht von einem garantierten Schutz. Mehrere Migrant*innen, die eine Woche zuvor im selben Hafen an Land gegangen sind, haben keine Erstinformationen in ihrer Muttersprache erhalten. In diesem Kontext sind auch die Handlungsmöglichkeiten der humanitären Organisationen sehr begrenzt. Das wissen wir von den Dutzenden unbegleiteten Minderjährigen, die wir kürzlich in Siracusa getroffen haben. Sie sind in den Aufnahmezentren der Gegend untergebracht, in Floridia, Melilli und im ehemaligen Umberto I, das jetzt von der Genossenschaft „Città Gratissima“ aus Caltagirone geführt wird. Die Jungs und Mädchen sind am 20. März im Hafen von Augusta angekommen. Sie stammen aus Somalia und einige von ihnen sind sichtlich sehr jung. Einige können sich nur mit Mühe auf Englisch ausdrücken. „Im Zentrum sind wir fast 50,“ sagt uns ein Minderjähriger, der im ehemaligen Umberto I untergebracht ist. „Wir bekommen Essen und Wechselkleider, aber wir schaffen es nicht uns zu verständigen. Seit einer Woche sind wir hier und konnten noch nicht unsere Familien anrufen, um ihnen mitzuteilen, dass wir angekommen sind.“ „Ich habe die Daten meiner Familie in Deutschland angegeben, aber ich weiß nicht, mit wessen Hilfe und wie ich sie erreichen werde. Selbst wenn mir in den nächsten Monaten niemand etwas sagen wird, egal, ich kann jetzt nicht stehen bleiben“. Viele denken anders und entscheiden sich gleich für die Flucht. So auch eine Gruppe uns bekannter Mädchen, die wir nicht mehr ausfindig machen können; und ein Dutzend einzelner Minderjähriger, wie M. Sie halten die Vernachlässigung, der sie in den Zentren ausgeliefert sind, nicht aus und machen sich mit dem letzten bisschen Hoffnung erneut auf den Weg. Die Hoffnung schöpfen sie aus den Worten von Landsleuten, die es vor ihnen nach Europa geschafft haben. Am 29. März hat die Abgeordnetenkammer das Gesetz zum Schutz von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten definitiv angenommen. Das ist ein wichtiger Beschluss und wir hoffen, dass er die bisherigen Schutzmaßnahmen für Minderjährige in Einklang bringt und wirksam macht. Leider wurde das Gesetz von den Medien verzerrt verbreitet. Die Behauptung, dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete durch das neue Gesetz „nicht mehr“ abgeschoben werden können, ist eine Falschinformation, die zu populistischen und fremdenfeindlichen Reaktionen anregt. (Bereits seit dem Einwanderungsgesetz aus dem Jahr 1998 dürfen unbegleitete minderjährige Geflüchtete nicht mehr abgeschoben werden.) Die korrekte Wiedergabe von Fakten wird in einem Umfeld, in dem Fehlinformation den Interessen derer, die die Medien als Machtinstrument missbrauchen, gleich gestellt werden, immer wichtiger. Die Tatsachen entfernen sich immer weiter. Die Worte und die gezeichneten Körper der Ankommenden geben uns ein notgedrungen grausames und unmissverständliches Zeugnis. So unglaublich das auch klingen mag, dies löst keine Empörung, sondern Verdrängung und Gleichgültigkeit aus.
Am Morgen des 25. März brachte das Schiff Golfo Azzurro der NGO Proactiva die Körper von fünf toten Migrant*innen nach Catania. Die Körper konnten, nach Stunden der unaufhörlichen Suche, geborgen werden. Es ist anzunehmen, dass sie aufgrund der kleinen Rettungswesten die sie bei sich trugen, an der Wasseroberfläche blieben. So fanden diese fünf Personen ein Grab, im Gegensatz zu den Hunderten anderen, die auf den selben Schlauchbooten unterwegs waren und vom Meer verschluckt wurden. Von den zuletzt genannten bleibt lediglich die Erinnerung an ihr Antlitz und ihr Name auf einer Vermisstenliste, die Auskunft über das fortschreitende Massaker im Mittelmeer gibt. Die Toten an der italienischen Grenze schaffen es nicht mehr in die Nachrichten, sondern bleiben Zahlen, unsichtbar wie jene Migrant*innen die es lebend nach Italien schaffen. Lediglich eine Journalistin mit drei Kameraleuten, eine Vertreterin von UNHCR und Save the Children haben der Ankunft der Leichen auf der Golfo Azzurro beigewohnt und dokumentiert. Bis auf das diensthabende Hafenpersonal und die Sicherheitskräfte war der Hafenkai leer. Diese sind immer eifriger dabei, sich mit der Besatzung der humanitären Schiffe im Hafen und den Militärschiffen im Hintergrund zu verbinden. Das Schweigen, welches das Umladen der toten Körper dieses Mal begleitet hat, kann nicht als Andacht und Mitgefühl bezeichnet werden. Auf traurige Art erinnert es vielmehr an das Vergessen und die Gleichgültigkeit.
Angesichts dieser Tatsachen dürfen auch wir nicht stehen bleiben. Wir müssen uns weiterhin für eine aktive Erinnerung einsetzen.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner