Wer hat Interesse an den Migrant*innen?
„Wenn dich die Militärs auf ihrem Schiff aufnehmen, kannst du beruhigt sein, denn deine Route wird bis zum Eintreffen internationaler Hilfe fortgeführt; wenn dich Männer ohne Uniform auf ein Schlauchboot stoßen, ist es sehr wahrscheinlich, dass mit ihrem Verschwinden andere Räuber kommen, um dir alles wegzunehmen und dich dahin zu schicken, woher du gekommen bist. Ich habe die Flucht dreimal versucht, erst beim dritten Versuch habe ich nach vier Tagen Sizilien erreicht.“
A. ist vor circa zwei Monaten in Catania angekommen, nach einer Flucht, die 2016 in einer Gegend in der Nähe von Abuja in Nigeria begann. „In meinem Land machen viele Geld mit denen, die fliehen wollen und die das nicht auf legale Weise machen können. Ich habe auf einen arabischen Mann vertraut, der mich bis Agadez gebracht hat und von dort haben mich andere nach Libyen gebracht.“ Schlägereien, Diebstähle, Gewalt und Drohungen unterteilen die Tage derer, die mit den eigenen Ersparnissen, der Zwangsarbeit und oft dem Leben den Versuch bezahlen, nach Europa zu kommen. Die Grenzen töten die Körper und lassen unauslöschliche Narben in der Seele derer, die sie nicht überqueren können. Die Verzweiflung des Flüchtenden nährt einen gewaltigen Strom verschiedener Interessensgruppen.
Heute werden sogar die von A. mit Gewissheit vorgebrachten Prognosen Lügen gestraft von Vorfällen, die jenseits jeglichen Anstands liegen: Noch während wir hier den Artikel schreiben, erfahren wir von der Abweisung von ungefähr 570 Migrant*innen, die von der libyschen Küstenwache zurück zu der Küste gebracht werden, von der sie aufgebrochen waren, und gleichzeitig von anderen Schiffbrüchen mit neuen Toten und Vermissten. Die libysche Küstenwache klagt die Schiffe der NGOs an und schüchtert diese ein. Währenddessen führt sie kollektive Rückführungen in die libyschen Lager aus, in denen Missbrauch aller Art dokumentiert ist und aus denen die Geflüchteten mit der Überquerung des Meeres verzweifelt versucht haben zu fliehen.
„Als ich auf das Schiff ging, das mich aufnahm, sind dann einige Stunden vergangen, bevor mir klar wurde, dass ich endlich in Sicherheit war. Wir warteten praktisch einen Tag lang auf die Rettung. Ich befand mich unter Leuten, die Fluchtgefährten suchten oder die davon erzählten, wie sie Fluchtgefährten hatten sterben sehen.“ L. ging am 29. Mai in Catania von Bord des Schiffes San Giusto, zusammen mit mehr als 900 Personen, darunter waren 10 Leichen: auch der Leichnam einer Mutter von zwei 3- und 4-jährigen Kindern, die mit demselben Schiff angekommen waren. Eine Woche später traf das gleiche Schicksal ein lediglich 15 Monate altes Mädchen, das in Trapani zusammen mit dem Leichnam seiner Mutter, die auf der Überfahrt verstorben war, an Land gebracht wurde. In den Tagen, in denen die ganze Welt auf die Mächtigen der G7 schaute, die sich in einem gepanzerten Sizilien trafen, ereigneten sich fern der Küsten weitere Schiffsbrüche mit Dutzenden Vermissten und Toten, darunter auch einigen Kindern. Dort zählt man die Waisen, die Witwen und die Hinterbliebenen inmitten der entsetzlichen Gleichgültigkeit der Medien und der gewöhnlichen Bürger*innen, die anscheinend weit entfernt von den tragischen Nachrichten bleiben, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen. Unter den letzten Schiffbrüchigen, die allein gestern in Catania ankamen, befinden sich 8 Opfer, während in ganz Sizilien und in einigen Häfen Kalabriens neue Leichname und neue vor dem Tod im Meer Gerettete ankommen.
Die Bedeutung der Grenzüberschreitung
Wer regiert ist sich jedoch der Dynamik voll bewusst, die zu diesem Sterben führt, und ist sehr an der Frage der Migration „interessiert“. So erweitert Italien die Verträge mit Libyen, es werden Milliarden Euro investiert, um neue „Sicherheits“vorkehrungen und die Kontrolle an den Außengrenzen umzusetzen, die Transitländer und die Ursprungsländer werden bezahlt, damit sie an der Verbannung der Migrant*innen mitwirken, die wie Zahlen, Waren, Körper und nicht wie Personen behandelt werden. Leben zu retten scheint keine Priorität zu haben, aber eine zu hohe Zahl an Toten kann Aufsehen erregen. Deswegen ist es besser, andere die schmutzige Arbeit machen zu lassen, für die wir verurteilt werden könnten, und dabei suchen wir immer mehr die Gesetzgebung nach unseren Interessen zu gestalten, mit schnell aufeinander folgenden Dekreten. Das neue Gesetz Minniti-Orlando hat eindeutig die Abschiebung, die Rückführung zum Ziel und schafft so am laufenden Band neue Illegale auf italienischem Boden; die künftigen, auf europäischer Ebene geplanten Diskussionen werden sich auf die Verlagerung der Grenzen nach außen und auf die Rückübernahmen konzentrieren. Dabei droht Libyen für Italien ernsthaft zum sicheren Drittstaat zu werden, in das man auch Asylsuchende rücküberführen kann.
Sukzessiver Abbau des Rechtsstaats, Praktiken, die darauf abzielen, die sogenannten „Wirtschafts-“Geflüchteten und die straffällig gewordenen Geflüchteten schnellstmöglich zu identifizieren und auszusieben für die Ausweisung, die Abschiebung oder die Zurückweisung. In diesem Szenario spielt der Moment der Anlandung eine immer größere Rolle. „Etwas zu essen zu finden oder einen Platz zum Schlafen ist nicht schwierig. Ich möchte das Ganze jedoch verstehen.“ Diesen Satz hören wir regelmäßig von Flüchtenden, die sich in Aufnahmezentren oder außerhalb der institutionellen Aufnahme befinden. „Erst vor drei Tagen, als ich im Lager in Como ankam, habe ich entdeckt, dass meine Fingerabdrücke in einer europäischen Datenbank gespeichert sind. Letzte Woche kam ich in Kalabrien mit dem Schiff an, sie haben mich identifiziert und dann gehen lassen“, sagt uns C., den wir in der Nähe des Mailänder Hauptbahnhofs treffen. „Ich war drei Monate in einem Lager und die Sache mit den Fingerabdrücken habe ich von niemandem gehört“, erklärt uns noch M., der in Mailand jedoch zu Beginn dieses Frühjahrs ankam. Um Auskünfte auf korrekte und ausführliche Weise geben zu können, braucht es Zeit, man muss eine gemeinsame Sprache haben, der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses kann in vielen Fällen genau den Unterschied ausmachen. Und so stellen wir fest, dass das Recht der Migrant*innen auf Information noch wenig geregelt und wenig geschützt ist und oft wird das zur Verfügungstellen von Hilfsinstrumente mit der Information selbst verwechselt.
Andererseits zeigt der „notfallmäßige“ Ansatz, mit dem das Migrationsphänomen in den letzten Jahren angegangen wurde, deutlich, wie sich das Ziel der damit befassten Akteur*innen leicht vom gedruckten Wort – dem individuellen Schutz der*s Migranten*in – hin zu dem verschiebt, was wir lediglich die Aufrechterhaltung des Status Quo nennen können, um so den größtmöglichen Profit daraus zu ziehen und die unterschiedlichen Positionen von Sichtbarkeit und Macht zu verstärken.
Der Respekt und die Kenntnis der eigenen Rechte und Pflichten hängt in entscheidender Weise vom Ankunftshafen ab, vom dortigen Personal und vom Zielort. Darüber können die in Augusta angelandeten Migrant*innen einiges erzählen, denn oft werden sie gezwungen, länger als einen Tag darauf zu warten, vom Schiff, das schon angelegt hat, gehen zu können. Denn die Anlandung passt sich dem Rhythmus der Ermittlungen und der Kontrollvorgänge an, statt sich in erster Linie an den Erfordernissen des humanitären Schutzes desjenigen zu orientieren, der gerade einen Schiffbruch überlebt hat. Auch diejenigen, die schon als vermeintliche Schleuser abgestempelt werden oder die mit der Zurückweisung zu rechnen haben, werden am Kai eindeutig unterschiedlich behandelt, und dabei geschieht es, dass derjenige, der als letzter an Land geht, wenn viele Mitarbeiter*innen der Organisationen schon im Hotspot sind, oft mit größerer Verbissenheit durchsucht und ohne jede Achtung befragt wird. So geschehen in Pozzallo während der letzten Anlandung des Schiffes Golfo Azzurro. „Zu viel Geld, das auf dem Rücken der Verzweifelten verdient wird“, sagt uns eine Ehrenamtliche, die mit uns zusammen diese Szenen beobachtet hat, die die realen Auswirkungen der an Verhandlungstischen beschlossenen Politik greifbar werden lassen; der Schutz wird dem Zufall und dem Glück überlassen, niemand garantiert die Anwendung der Gesetze.
Die andere Seite der Kriminalisierung
„Schuldig“, da man sich solidarisch verhält oder da man eine Arbeit des Schutzes ausübt: Heute wird es immer schwieriger, die Migrant*innen über ihre Rechte zu informieren oder die Pflicht auszuüben, ihnen zu Hilfe zu eilen oder sie zu unterstützen. Die diffamierende Kampagne gegen die NGOs im Mittelmeer erreicht nun ihren Tiefpunkt, aber es werden auch Anwält*innen, Mitarbeiter*innen, Aktivist*innen oder einfache Bürger*innen ins Visier genommen, die alle in Wirklichkeit lediglich ihre Pflicht erfüllen und die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit respektieren, die von den internationalen Abkommen und von unserer Verfassung vorgegeben sind.
Am vergangenen 12. Mai tauchte erstmals auf der sizilianischen Bühne eine rechtsextreme Gruppe mit dem Namen Generazione Identitaria auf, die versuchte, mit einem Schlauchboot die Ausfahrt des Schiffes Aquarius von SOS Méditerranée und der Ärzte ohne Grenzen aus dem Hafen von Catania zu verhindern. Eine Bewegung von jungen und sehr jungen Italiener*innen und Österreicher*innen, die in diversen europäischen Ländern Kontakte haben und schon ein aussichtsreiches Fundraising angestoßen haben mit dem Ziel, „die Invasion der Migrant*innen in Europa“ zu stoppen, indem sie vornehmlich gegen die Arbeit der NGOs wettern, die Rettungsaktionen im Meer durchführen. Ihre Leiter*innen treffen sich in diesen Tagen in diversen italienischen Städten und lösen bei Antifaschist*innen und Antirassist*innen, die von Catania aus sofort reagiert haben, Empörung aus. Wer das fehlende historische und kollektive Gedächtnis ausnutzt und die Wut der „Armen gegen die Armen“ schürt, findet auf dem Kampfplatz diejenigen, die sich dem täglich entgegenstellen. Sie versuchen, daran zu erinnern, woher diese Migrant*innen kommen, die angeklagt werden uns zu „überrennen“, und auch ihnen die Würde und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung zu geben, Dinge, die unser System allzu oft nicht garantiert.
Die Zunahme der Kriminalisierungs-, Diffamierungs- und der Abschreckungskampagnen macht uns das Potenzial bewusst, das auf oft unsichtbaren Solidaritätsaktionen besteht, die sich gegenseitig immer mehr anerkennen und verstärken müssen. „Heute braucht es auch Mut, um seine Arbeit gut zu machen, wenn wir der Aufgabe, die uns auf dem Papier zugewiesen wurde, treu bleiben wollen“, sagte uns der Mitarbeiter einer Erstaufnahmeeinrichtung, In diesem Sinne können wir uns nur ein Beispiel an denen nehmen, die ankommen: „Es gibt zahlreiche Gründe dafür, warum ich mein Land verlassen habe, aber ich kann sie einfach so zusammenfassen, wenn ich etwas sage, was nicht berücksichtigt wird, aber die ehrlichste Antwort ist, und zwar, dass ich ein besseres und freies Leben suche“, sagt uns C., der in Eritrea sein halbes Leben lang gezwungen wurde, Soldat zu sein, „ich hatte keine Wahl, aber sicher Mut. Und das brauche ich auch hier in Italien, einem demokratischen Land, das die Menschenrechte respektiert.“
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib