Waisenheim unter freiem Himmel: Unbegleitete minderjährige Geflüchtete auf Sizilien
Laut Innenministerium haben im Jahr 2016 insgesamt 25.846 Minderjährige die italienischen Küsten über den Seeweg erreicht. Sizilien hat im Vergleich zu den anderen Regionen Italiens den größten Anteil von Neuankömmlingen zu bewältigen. Im Rahmen des Qualitätskontrollprogramms der neuen Erstaufnahmezentren besuchte die italienische Kommissarin für Kinder- und Jugendschutz die Städte Catania und Noto. Ihrem insgesamt positiven Urteil steht die harsche Kritik der Organisationen Oxfam und Borderline Sicilia gegenüber.
Auf ihrer Reise arbeitet sich die Kommissarin Filomena Albano von Nord nach Süd vor. Nachdem verzweifelte Minderjährige die Jugendschutzkommissarin in der baresischen Gemeinde Cassano delle Murge aufgehalten hatten, um angesichts der unmenschlichen Bedingungen in ihren Unterkünften für ihr Recht auf Anhörung zu klagen, setzte sie ihre Fahrt nun in Richtung Sizilien fort. Am 3. und 4. März besuchte sie Catania und Noto. Somit erreichte die im Januar in Florenz, Bologna und Turin begonnene Reise, die die Lebensumstände minderjähriger Geflüchteter dokumentieren und dadurch Anhaltspunkte für die Verbesserung des Integrationsprozesses liefern soll, die Region des Stiefels, in der sich die meisten unbegleiteten Minderjährigen aufhalten (am 31. Januar dieses Jahres waren es nach Angaben des Ministeriums für Arbeit und Sozialpolitik 5876).
Das Urteil der Kommissarin. Neben Arbeitstreffen mit lokalen Institutionen besichtigte Albano insgesamt drei Zentren in Catania und eines in Noto. In ihrem Statement war von „Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit“ die Rede, die Verweildauer in den Erstaufnahmezentren sei in der Regel sehr viel länger als vom Gesetz vorgesehen. Eigentlich müssten aufgenommene Minderjährige nach spätestens 60 Tagen in Zweitaufnahmezentren überführt werden, die ihrerseits eine ganz Reihe unerlässlicher Dienstleistungen, wie zum Beispiel Schulunterricht, anbieten sollten. Nun warten allerdings nicht wenige der minderjährigen Geflüchteten bis zu acht Monate auf ihre Umsiedlung in Zweitaufnahmezentren. Während dieser langen Wartezeit werden sie – je nach Willkür der jeweiligen Einrichtung – oft in keinerlei Aktivitäten eingebunden. So brachte Filomena Albano, nachdem sie das institutionelle Netzwerk in Sizilien im Allgemeinen gelobt und die besichtigten Zentren für geeignet erklärt hatte, auch einige Kritikpunkte an: „uneinheitliche Verfahrensweisen, fehlende Plätze und ein Mangel an integrativen Maßnahmen.“ Die gesammelten Informationen wolle sie noch vor Beginn des Sommers in einem Bericht zusammentragen.
Oxfam klagt an. Ganz im Gegenteil zum eher positiven Urteil der Kommissarin prangert der mit „Große Hoffnungen auf Abwegen“ betitelte Bericht des Oxfam-Projekts OpenEurope in Kooperation mit Borderline Sicilia und der Waldensischen Diakonie materielle Enteignungen, verwehrte Rechte und stümperhafte Aufnahmepraktiken an. In den Hotspots von Pozzallo und Lampedusa würden Minderjährige regelrecht weggesperrt und auf dem Hafenkai der Stadt Augusta wochenlang zusammen mit Erwachsenen festgehalten. Mehrere Monate lang überließe man die Minderjährigen ihrem Schicksal in unzulänglichen Zentren, wo sie sich manchmal zu viert ein Sandwich zum Mittagessen teilen müssten. Man lasse die Jugendlichen über ihre Rechte im Dunkeln oder ändere sogar mutwillig das Geburtsdatum, um ihre Minderjährigkeit zu verschleiern. Bei alledem bliebe es ihnen zudem versagt, das ihnen angetane Unrecht zu erkennen, da es allerorten an Mediator*innen fehlte, die ihrer Sprache oder wenigstens des Englischen oder Französischen mächtig wären. Minderjährige seien gezwungen, in Mülleimern nach Kleidungsstücken zu suchen und fielen in einigen Fällen sogar psychologischer und physischer Gewalt durch genau jene Personen zum Opfer, die eigentlich für ihren Schutze Sorge tragen sollten. Ein individueller Begleiter werde nur in seltenen Fällen und nach langen Wartezeiten zugeteilt. Und bei Vollendung der Volljährigkeit packe man die Jugendlichen inmitten der Nacht und setze sie auf offener Straße aus.
Monitoring vor Ort. Schenkt man dem jüngsten Bericht des Arbeitsministeriums Glauben, sind derzeit 5.373 Minderjährige unauffindbar. Nur ein Teil von ihnen ist untergetaucht, um die Reise auf der Suche nach Verwandten und Freunden fortzusetzen (das betrifft vornehmlich Geflüchtete aus Eritrea). Die anderen, deren Spuren sich leicht verlieren, weil niemand sie sucht, sind aus den Aufnahmezentren ausgebrochen. Laut Lucia Borghi, die bei Borderline Sicilia für das Monitoring in Ostsizilien zuständig ist, sind übliche Motive solcher Fluchtversuche die oft extrem abgeschiedene Lage der Behausungen sowie der dort herrschende Mangel an Versorgung, Integration, Betreuung, Information und Schutz. „Man tut wirklich nur das Aller-, Allernötigste. Es besteht überhaupt kein Interesse daran, eine guten und nachhaltigen Umgang zu finden, obwohl die Migrationsflüsse doch schon seit Jahren nicht abebben.“
Aufnahmezentren – do it yourself! „Lange Wartezeiten, keinerlei Entwicklungspläne, Verwahrlosung und Frustration”, resümiert Anwältin Paola Ottaviano von Borderline Sicilia ihre Erfahrungen mit den Erstaufnahmezentren. Häufig höre sie von Gewalt und Missbrauch in den Einrichtungen. „In Italien kann jeder, der will, Leiter eines außerordentlichen Aufnahmezentrums werden“, kritisiert sie. „Mit der Eröffnung dieser Zentren ist ein neues Geschäftsfeld entstanden. Es gibt keine Kontrollen und es fehlt an kompetentem Personal. Außerdem fließt unkontrolliert Geld, und überall herrscht die Logik vom maximalen Gewinn bei minimalen Ausgaben.“
Was die Minderjährigen betrifft, ist Sizilien ganz auf sich allein gestellt, weil das Gesetz vorsieht, dass sich ausschließlich die Verwaltungen der jeweiligen Ankunftsstadt um die gelandeten Jugendlichen kümmern müssen. Wenn man bedenkt, dass die Zahl der ausländischen Kinder, die an unseren Küsten gestrandet sind, weiterhin steigt (11.000 mehr als im Jahr 2015), und dass jeden Tag 28 von ihnen im Nirgendwo verschwinden, versteht man vielleicht besser die Tragweite des Dramas, das gerade dabei ist, eine Insel in ein Freiluftwaisenheim zu verwandeln. Dessen Außenstellen sind die Bahnhöfe von Catania, Rom und Mailand, wo jeden Tag Kinder und Jugendliche darauf warten, dass ihnen jemand einen Fluchtweg aus der Verzweiflung zeigt.
Maria Cristina Fraddosio
Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack