Von Pozzallo über Ventimiglia nach Mineo: Migrant*innen werden auf italienischem Gebiet festgehalten, abgeschoben und isoliert
Es sind Bilder wie aus einem Polizeistaat, die uns seit einer Woche aus Ventimiglia und Genua erreichen. Prügel, Räumungen, Gedränge, Abschiebungen im Flugzeug und Zwangsidentifizierungen zum Schaden von hunderten Migrant*innen, darunter schwangere Frauen, unbegleitete Minderjährige und Schutzbedürftige. Identifizierungen, Polizeigewahrsam und zugestellte Ausweisungsbescheide auch für zahlreiche Aktivist*innen und solidarische Bürger*innen. Sie sind die sogenannten „Schuldigen“, weil sie den auf den Stränden kampierenden Geflüchteten helfen, sie über ihren Rechtsstatus informieren und Solidarität zeigen. An der französischen Grenze wird ein weiteres dunkles Kapitel italienischer Geschichte geschrieben. Denn, ob wir es wollen oder nicht, die Verletzung der Rechte, die Unterdrückung und die Anwendung der freiheitsfeindlichen Politik betrifft uns alle.
Vor einer Woche wurden rund 50 Migrant*innen per Flugzeug von Genua nach Catania gebracht. Dort kamen sie in das Aufnahmezentrum für Asylsuchende, in den Hotspot von Mineo. Unter ihnen waren einige junge Männer aus Eritrea und dem Sudan, wir haben sie noch am selben Abend am Bahnhof von Catania getroffen. Sie hatten ihre Reise zu anderen Zielorten bereits wieder aufgenommen und waren entschlossen, die Gesetze nicht zu akzeptieren, die nur darauf ausgerichtet sind ihre Bewegungen zu kontrollieren und ihre Subjektivität zu neutralisieren. Wer sein Leben für die Freiheit riskiert, der weiß, dass auch die bekannten Umsiedlungspraktiken, die bis heute total fehlgeschlagen sind, nichts anderes sind als eine neue von Europa ausgetüftelte Art und Weise, um die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten besser zu leiten und um ein Sicherheitssystem am Leben zu erhalten, das eigentlich ganz abgeschafft werden müsste. An seine Stelle sollten ernsthafte Aufnahmepraktiken treten.
„Ich bin vor einigen Monaten nach Pozzallo gekommen“, sagt uns einer der Migrant*innen am Bahnhof. Er gibt an, noch minderjährig zu sein und wirkt nicht älter als 15. „Dort wurden mir unter Stößen und Zwang meine Fingerabdrücke abgenommen und kurz darauf wurde ich verlegt und ich reiste bis zur französischen Grenze“, berichtet der Junge. Die Unterhaltung gestaltet sich als schwierig, denn die Migrant*innen sprechen hauptsächlich Tigrinya und Arabisch. Einige können auch Englisch, wir sprechen hauptsächlich mit ihnen. Nachdem das anfängliche Misstrauen überwunden ist, bleiben die Erzählungen ihrer Reise dennoch zurückhaltend: „Wir sind mit dem Flugzeug gekommen mit weiteren 52 Personen, jetzt wollen wir nach Rom, das ist alles.“ Im Gespräch haben wir erfahren, dass die Migrant*innen mehrmals identifiziert wurden, zum hundertsten Mal auch im CARA (Aufnahmezentrum für Asylsuchende). Fast alle sind vor Monaten in den sizilianischen Häfen angekommen. Sie sind Zeug*innen eines wahnsinnigen Systems, das sich einbildet, diese Menschen wie Spielfiguren zu beherrschen und sie auf ihrem Schachbrett der Interessen hin und her zu schieben.
Erneuter Mittelpunkt dieser Verlegungen ist, nicht zufällig, das Zentrum von Mineo. Es wurde vom Ministerium offiziell als Hotspot eingerichtet. Die zuständige Betreibergesellschaft erhält vom italienischen Staat die entsprechende Zahlung für die „Aufnahme“ während der ersten drei Tage nach der Ankunft, obwohl die Personen die Einrichtung sofort verlassen. So auch jene die wir am Bahnhof getroffen haben. „Wir wissen, dass Italien unsere Fingerabdrücke hat, aber wir machen weiter, denn wir müssen eine Reise zu Ende bringen.“ Die selben Worte hörten wir erneut in Gesprächen die sich eine Woche später ereigneten, als wir auf eine Gruppe von somalischen Minderjährigen trafen, die durch Pozzallo irrten. „Wir sind seit neun Tagen im Zentrum. Alle außer uns unbegleiteten Minderjährigen wurden verlagert. Insgesamt sind wir zwischen 100 und 120 und mindestens 12 von uns sind allein und jünger als 15 Jahre. Sie können das Zentrum im Gegensatz zu uns nicht zeitweilig verlassen.“ Auch diese jungen Jugendlichen wollen flüchten, um Freunde und Verwandte in Großbritannien zu erreichen.
Trotz der minimalen medialen Aufmerksamkeit im letzten Monat, als eine Gruppe von Parlamentarier*innen den Hotspot besuchte, geht die rechtswidrige Behandlung weiter. Die nicht begleiteten Minderjährigen sind ohne Bestätigung und erfahren illegale Praktiken. Ihre einzige Möglichkeit ist der freie Ausgang, der ihnen gewährt wird. Zum hundertsten Mal wird der fehlende Wille bestätigt, das größte Wohl der unbegleitetenMinderjährigen zu schützen, sowie ihre Sicherheit. Das würde eine Verlegung in ein geeignetes Zentrum und eine angemessene Begleitung beim Verfahren und auf Staatsgebiet voraussetzen. Die Jungen mit denen wir sprechen sind von der Hitze und dem Beginn des Ramadan ausgezehrt, auch wenn sie uns bestätigen, die Speisen auch nach Sonnenuntergang zu sich nehmen zu dürfen. Seit ihrer Ankunft haben sie nur eine Wechselkleidung bekommen, diese können sie in unregelmäßigen Abständen waschen. „Zum Glück ist es heiß, so müssen wir nicht alle Kleider tragen.“ Das Telefonguthaben, das sie bei ihrer Ankunft erhalten haben, war logischerweise nach dem ersten Anruf erschöpft.
Sie sagen, mit Mitarbeiter*innen verschiedener NGOs gesprochen zu haben, „sie sind die Einzigen, die gut Englisch sprechen.“ Von ihnen seien die Jugendlichen über ihre Rechte und die vielen Pflichten informiert worden, trotzdem sind die Jugendlichen immer mehr davon überzeugt sich zu entfernen: „Wenn wir weiter warten, werden wir vielleicht verlegt, sobald wir volljährig sind!“ M., ist gerade 15 Jahre alt geworden, er spricht fließend Englisch und übersetzt den Großteil unseres Gesprächs mit der Gruppe, „ich hatte Glück und konnte in Mogadischu studieren, ich möchte meine Schulbildung fortsetzen und einen Abschluss in Geschichte machen, Basketball spielen. Sie“, er zeigt auf seine drei Freunde, „sind mit mir vor der Al Shabaab geflüchtet. Ich habe Englisch gelernt, was soll ich in Italien wo mich keiner versteht?“ Klare Ideen und viel Bestimmung, gerade sogar begleitet von einem Lächeln und Scherzen und dann wieder abgelöst von den Zeichen der Unduldsamkeit. Wir fragen uns, wie lange sie das unendliche Abwarten noch ertragen.
Das gilt nicht für Dutzende von Migrant*innen, die ständig zur Bushaltestelle ganz in unsere Nähe kommen. Beinahe täglich verlassen sie das außerordentliche Aufnahmezentrum „Alessandro Frasca“ in Rosolini und beklagen die unzähligen Tage, die sie mit Warten verbracht haben ohne zu wissen worauf. „Vom Zentrum dürfen wir nicht allein in die Ortschaft (eine willkürliche Einschränkung der Freiheit, die wir bereits vor einem Jahr angeklagt haben, trotzdem scheint sie noch Anwendung zu finden). Sie sagen, es sei zu unserem Schutz, da es im Dorf Rassisten gibt. Deshalb fahren wir mit dem Bus nach Pozzallo, auch täglich, um raus zu kommen und Menschen zu sehen.“ Im Zentrum erhalten sie sporadischen Italienischunterricht, das sei alles, so die Migrant*innen. Einige wurden vor kurzem vom Zentrum „Umberto I di Siracusa“, das mittlerweile geschlossen ist, hierher verlegt. Sie haben dort viele Monate verbracht, jetzt wirken sie verängstigt von den Geschichten über Isolation und Vernachlässigung, die ihre Zukunft zu sein scheinen.
Auch in ihrem Fall liegen die Angst und der Wunsch nach Selbstbestimmung gleichauf mit dem Risiko erneut in die Netze der Schlepper und der Ausbeutung zu fallen. Europa hat sie bereits gezwungen sich diesen Netzen anzuvertrauen um die Grenzen zu überschreiten und auch weiterhin sind sie deren Kontrollpolitik und Unterdrückung ausgesetzt. Europa schreibt eine inakzeptable Unterteilung zwischen jenen, die angenommen und jenen die nicht angenommen werden, vor und die Medien erschaffen passende Migrant*innenprofile. Die direkten Konsequenzen sind nicht legitime Selektionen und Diskriminierung, Zurückweisungen, Abschiebungen und die totale Vernachlässigung jener, die als Menschen ohne
Rechte bezeichnet werden. Dabei sollten sie als Zeug*innen einer Situation aufgenommen werden, die es unbedingt zu ändern gilt.
Lucia Borghi
Borderline Sizilien
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner