San Berillo, in ganz Italien spricht man über die Migrant*innen. „Berichte über Gewalt auch aus dem CARA* von Mineo
Quelle: Meridionews
Vom Piemont bis Sizilien. Von Turin bis Syrakus über Rom und Riace, und über die Meerenge Messinas nach Sutera und Geraci Siculo bis Petralia Sottana und Polizzi Generosa. Das sind einige Good-Practice-Modelle der Geflüchtetenaufnahme in Italien. Im Stadtteilzentrum von San Berillo in Catania wurden sie gestern vorgestellt, im Rahmen des Seminars Sizilien und die Migranten: menschenwürdige Aufnahme oder Frontex und Zurückweisungen? Die Veranstaltung wurde organisiert von der Rete dei Comuni solidali, dem Netzwerk der solidarischen Gemeinden, und vom Antirassistischen Netzwerk Catania. Es fand ein offener Austausch über positive Erfahrungen statt, wenige Wochen nach der zwei Tage dauernden Protestaktionen „No Frontex“ gegen die Eröffnung einer Niederlassung der europäischen Grenzschutzagentur in Catania. „Die Absicht ist, den Initiativen Kontinuität zu verleihen, Netzwerke zu schaffen und in einer bottom up Strategie der gängigen Abschiebungspraktiken in der Migrationspolitik Einhalt zu gebieten“, erklärt Alfonso Di Stefano, Aktivist des Antirassistischen Netzwerkes Catania bei der Eröffnung der Aktionstage.
Unter den Teilnehmenden aus ganz Italien waren die Leute vom Baobab in Rom, einem Kollektiv, das Hilfe anbietet an Obdachlose und Migrant*innen auf der Durchreise in der Hauptstadt, trotz der wiederholten Räumungen durch Francesco Paolo Tronca, dem Kommissar der Präfektur. Mit den Freiwilligen aus Rom und Kalabrien kam auch Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace. Er belegt seit neuestem den vierzigsten Platz in der Liste der einflussreichsten Persönlichkeiten, die von der amerikanischen Zeitschrift Fortune jedes Jahr erstellt wird. Eine Anerkennung seines Einsatzes für eine andere Migrationspolitik in seinem Modell der multiethnischen Gemeinschaft, das er in seiner kalabresischen Gemeinde verwirklicht hat. Hier leben die eingewanderten Bürger*innen (sie sind in der Mehrzahl) mit den Bürger*innen von Riace „normal“ zusammen, wie Lucano erklärt, „die Medien berichten über Salvini*, den Propagandisten des Rassenhasses, aber eine andere Dimension der Sichtweise ist möglich.“ Und die Geschiche von Riace bezeugt das. „Es sind didaktische Werkstätten, Ateliers für Kunsthandwerk und nachhaltiger Tourismus entstanden“, berichtet Domenico Lucano, „wir haben ein Experimentierfeld eingerichtet, das davon ausgeht, dass wir alle gleichwertig sind, das habe ich jeden Tag lernen können, und zwar nicht in den Büchern.“
Und von funktionierenden Aufnahmemodellen zeugen auch verschiedene sizilianische Gemeinden. Ein Beispiel ist die Kirchgemeinde von Bosco Minniti in Syrakus, wo Pfarrer Carlo D’Antoni seit Jahren afrikanische Migrant*innen aufnimmt. Oder die kleine Gemeinde Sutera, ein Bergdorf in der Provinz Caltanissetta, das ein Projekt für den Empfang von ganzen Familien unterhält. „Sutera ist genau wie Riace ein entvölkertes Dorf. Die Migranten bleiben gern, weil sie hier ein eigenes Haus haben“, erklärt Santina Lombardo, Mitglied des Vereins I Girasoli, das mit dem Projekt betraut wurde, das die Bürger*innen als Hauptverantwortliche für das Projekt betrachtet. „Abgesehen von etwas Misstrauen am Anfang hat sich die Bevölkerung als sehr zugänglich erwiesen, genau wie die Schulen und die Kinder.“
Neben dem Teilen der positiven Erfahrungen bot die Begegnung von San Berillo auch die Gelegenheit, sich über die Bedingungen der Migrant*innen und die Missachtung ihrer Rechte auszutauschen, die von Betreibern und Aktivist*innen innerhalb und außerhalb der verschiedenen Empfangs- und Aufnahmestrukturen, Wohnheimen und Hotspots dokumentiert worden sind. „Das praktizierte, vom Staat strukturierte Aufnahmesystem erweist sich als ein Mechanismus, der große Mengen öffentlicher Gelder in die Hände von Privaten und mafiösen Gruppen spült“, erklärt der Journalist Antonio Mazzeo. „Die Einrichtungen, in denen unsere Schwestern und Brüder Migrant*innen „eingesperrt“ werden, sind Orte, in denen ihre Persönlichkeit und Individualität ausgelöscht werden. Das selbe geschah in den Lagern der Nazis. Wie Hannah Arendt beschrieb, waren das nicht nur Vernichtungslager und das sollte uns alle alarmieren.“
Es ist ein Phänomen, das alle europäischen Regierungen zu verantworten haben, und das sich in einzelnen Gebieten noch verschlimmert. „Wir haben Zeugenaussagen von Eritreer*innen und Somalier*innen, die aus dem CARA* von Mineo geflüchtet sind. Sie berichten, dass sie geprügelt wurden und unter Gewalt mit elektrischen Schlagstöcken zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke gezwungen wurden“ berichtet Lucia Borghi von Borderline Sicilia, eine humanitär arbeitende Gruppe, die die Vorkommnisse in der Aufnahmepraxis von Migrant*innen ständig beobachtet und dokumentiert. „Eine andere verbreitete Methode ist der psychologische Druck, durch die Transfers und die zeitlich unbestimmte Zurückhaltung in den noch nicht klar juristisch reglementierten Hotspots. Das ist ein anderer gravierender Missstand, der oft vergessen wird.“
Ein weiterer Punkt betrifft die Handhabung der eingereichten Dokumente für den Antrag auf internationalen Schutz durch die Territorialkommissionen. Fast 90% der Anträge werden abgelehnt. „Viele unserer Berichte über erlittene Folter und Misshandlungen der Migrant*innen in ihren Heimatländern werden weggeworfen“, klagt Peppe Cannella von Ärzte für Menschenrechte an. „Der Grund dafür ist offenbar, dass wir Freiwillige sind und nicht für staatliche Institutionen arbeiten.“ Er äußert sich damit nicht über die mangelnde Sorgfalt, mit der die Anhörungen geführt werden! „Mehrere Male wurde ich während meiner Übersetzung der Aussagen von Minderjährigen vom Kommissionspräsidenten unterbrochen“, berichtet ein Mediator, „und er erklärte mir, dass ihn die Geschichte nicht interessiere, weil er minderjährig sei, »frag ihn, warum er hier ist »“.
Zum Schluss der Veranstaltung werden kommende Aktionen angekündigt. Zuerst in Catania: „In den nächsten Tagen wollen wir einen Rechtsstreit mit der Stadt lancieren, in dem wir die Einrichtung einer Unterkunft für Obdachlose und Migrant*innen auf der Durchreise verlangen“ berichtet Di Stefano. “ Und es wird nötig, innerhalb einer auf mehreren Ebenen geführten Auseinandersetzung die Wiederaneignung von öffentlichem Gut durchzusetzen – um endlich „humanitäre Räume von unten“ zu schaffen, für die welche vor Krieg und Elend flüchten müssen.“
Gianmarco Catalano
*CARA – Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
*Matteo Salvini, Parteipräsident der Lega Nord
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne