Nicht mehr menschlich
Wir haben diesen Beitrag von einer Mitarbeiterin einer humanitären Hilfsorganisation erhalten und veröffentlichen ihn hier.
Der 10. Juni 2018 markiert für Italien und Europa einen Wendepunkt in den Beziehungen innerhalb der EU und in der Organisation der Migrationsströme. Italien sagt: Es reicht, wir schließen die Zugänge zu den Häfen unseres Landes für ausländische Schiffe. Und zwischen diplomatischen Affären, institutionellen Taktlosigkeiten und der Verschwendung öffentlicher Gelder steigt die Zahl der Toten auf dem Meer.
Die Entscheidung, ausländischen Schiffen die Einfahrt in die italienischen Häfen nicht zu erlauben, passt zu dem allgemeinen Klima, das man schon seit einiger Zeit in unserem Land wahrnimmt. Die diskriminierende und fremdenfeindliche Stimmung kann in unterschiedlichen parteiübergreifenden Parolen zusammengefasst werden. Sie hat zur Wahl einer anti-immigration, populistischen und antieuropäischen Regierung geführt, hat sich in den letzten Tagen verschärft und ausgeweitet und spaltet Italien in zwei Teile. Die zahlreichen Demonstrationen, die in ganz Italien losgetreten wurden und bei denen sich zwei Gruppen bis auf wenige Meter gegenüberstanden, offenbaren das wahre Gesicht der italienischen Gesellschaft. Eine Nation, gespalten und desorientiert. #welcomerefugees auf der einen Seite, #chiudiamoiporti (deutsch: Häfen schließen) auf der anderen.
Das Problem ist, sagt man, dass wir sie nicht alle aufnehmen können. Europa lässt uns alleine, das hat es immer getan; hier haben wir unsere eigenen Probleme und wir können uns nicht auch noch die Afrikas aufladen. Und die an die Öffentlichkeit gelangten Bilder libyscher Gefangenenlager helfen auch nicht dabei, unsere Meinung zu ändern. Zuerst die Italiener*innen.
Gleichwohl, die Häfen zu schließen, heißt nicht nur eine Position gegenüber den anderen europäischen Staaten einzunehmen. Der Beginn der italienischen Regierung, mehr auf der Linie populistischer Prägung als mit einem nachhaltigen Programm, setzt das Leben einzelner Menschen aufs Spiel und verletzt internationale und italienische Rechtsnormen. Die Unzufriedenheit der Italiener*innen erklärt zwar die Entscheidung, unsere Häfen vor Schutzsuchenden zu versperren, kann sie aber nicht rechtfertigen.
Welches Recht dazu haben wir? Keines. Nach dem internationalen normativen Rahmen hat das Land, dem die Koordination der Rettungsoperationen übertragen wurde, einen sicheren Ort (place of safety) zu bestimmen, an den die geretteten Personen gebracht werden können. Dieses Prinzip ist bis vor wenigen Wochen mehrfach bei von der libyschen Küstenwache durchgeführten Rettungen verteidigt worden; aber jetzt legen die europäischen Regierungen den Rückwärtsgang ein.
Ein Gedanke klingt in vielen politischen Erklärungen an und verbreitet sich von einer Zeitung zur nächsten: Unsere Pflicht ist es, Menschen auf dem Meer zu retten, aber nicht, sie aufzunehmen; das ist ein gleichgültiger und unlogischer Gedanke. Die tausenden von Menschen, die an unseren Küsten landen, haben Missbrauch, Gewalt, physisches und psychisches Leid erlitten, und retten bedeutet auch, sich ihrer anzunehmen. Solche Individuen und Besatzungen von Rettungsschiffen zu zwingen, lange Reisen auf sich zu nehmen, unter instabilen meteorologischen Bedingungen, ist nicht und kann nicht die Antwort sein.
Nachdem sich die Regierungen von Malta und Italien geweigert hatten, einen sicheren Hafen zuzuweisen, ist die Aquarius gestern endlich in Valencia angekommen. Unter den von ihnen geretteten Migrant*innen – 627 insgesamt, aufgeteilt auf das Schiff der NGOs SOS Mediteranée und MSF*, der Dattilo der italienischen Küstenwache und dem Schiff der Marine, Orione – sind Kinder, Frauen (auch schwangere) und Männer, die Schutz und medizinische Versorgung benötigen. Und vor ihnen die Türen Europas zu schließen bedeutet, ihr Recht auf Leben nicht zu respektieren und darüber hinaus die internationale Gesetzgebung zu verletzen. Wer behauptet, dass ein paar Tage mehr, die man auf einem Schiff verbringt, auf keine Weise die physische und psychische Integrität dieser Menschen bedroht, verteidigt solche Gedanken, weil er noch nie mit ihnen mitten auf dem Meer gewesen ist. Die durchwachten Nächte, das Essen, das knapp ist, die begrenzte Menge an Medizin und medizinischem Personal, die beißende Kälte oder die unerträgliche Hitze, die Angst – das alles sind menschenunwürdige Bedingungen, die dazu auch noch die Hoffnung derjenigen zerstören, die hier ankommen mit dem einzigen Willen, eine bessere Zukunft zu haben.
Unterdessen hat Brüssel entschieden, die Gelder für die Verwaltung der Grenzen und der Migrationsströme zu verdreifachen. Der Vorschlag führt von aktuell 13 Milliarden zu 34,9 Milliarden für den Plan 2021-2027. Bleibt, sich zu fragen, in was diese Gelder investiert werden und ob die Ausgaben für die Schließung und Außenverlegung der Grenzen wirklich das Problem lösen oder ob sie nur weitere Menschenleben in Gefahr bringen. Es würde reichen, an den Fond für Afrika zu denken, von der vorherigen Regierung eingerichtet, der, statt die Entwicklung der Herkunftsländer zu unterstützen, nur die Taschen der Generäle und der Stammeschefs in Libyen gefüllt hat.
So hat die Aquarius nach dem Nein aus Malta und der von der Regierung Sanchez bekundeten Bereitschaft ihren sicheren Ort (place of safety) in Valencia gefunden. Und hier kommt wieder die italienische Heuchelei und Berechnung zum Vorschein: Zwei italienische Schiffe werden zur Unterstützung der Seereise eingesetzt, was den Staat für jeden Tag der Seefahrt zehntausende Euro kostet. Als ob wir damit sagen möchten, dass wir bereit sind, mehr zu zahlen, nur um sie nicht aufnehmen zu müssen.
Jedoch hat uns Europa immer Geld gegeben. Wie man auf der Seite der italienischen Küstenwache lesen kann (Link!)– um ein Beispiel zu geben: Die Finanzierungsanfragen, die von der Leitung der Küstenwache präsentiert und von der EU-Kommission positiv bewertet wurden, seien allein in den zwei Jahren 2016-17 auf mehr als 27 Millionen Euro gestiegen. Geld, das exklusiv gebunden ist an die Search and Rescue-Aktivitäten und dass niemand – nicht einmal der Innenminister – anders verwenden kann.
Aber es gibt auch Stimmen, die sagen, dass Salvini wirklich ein starkes Signal Richtung Europa sendet und das Problem der NGOs auf dem Mittelmeer gelöst hat. Tatsächlich gibt es zurzeit nur wenige ausländische Schiffe, die Rettungen durchführen, aus Angst für Tage oder Wochen blockiert zu werden. Dadurch werden aufs Neue hunderte Menschenleben in Gefahr gebracht. Und während „unsere“ wenigen Schiffe, die die einzigen sind, die in den italienischen Häfen anlegen dürfen, zwischen Sizilien und der Search and Rescue-Zone vor der libysche Küste hin- und her fahren, geht das Sterben auf dem Meer weiter. Der Fall des US-Schiffes Trenton, das gezwungen wurde, die Leichen von 12 Menschen, die während eines Schiffbruchs gestorben waren, zurückzulassen und der 46 Überlebenden, die ein ähnliches Schicksal erfahren haben wie jene an Bord der Aquarius, ruft Schmerz und Abscheu hervor.
Als direkt Betroffene und Zeugin der Gegenwart frage ich mich, wie wir uns verteidigen werden, wenn uns die Geschichte dafür verantwortlich machen wird. Wie unser Land auf die Anklage wegen der Verletzung fundamentaler Menschenrechte antworten wird. Wie wir mit dem Bewusstsein leben werden, uns die Hände mit dem Blut und dem Salz des Mittelmeeres schmutzig gemacht zu haben.
Schließlich frage ich mich, von welchen Erfahrungen ich den zukünftigen Generationen erzählen werde, als italienische Bürgerin und als Person an Bord genau dieser Schiffe. Ich werde ihnen erzählen, dass es uns, allem zum Trotz, gelingt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrechtzuerhalten; dass es uns gelingt, menschlich zu bleiben, auch wenn die Politik nichts Menschliches mehr an sich hat; dass es uns gelingen wird, Alternativen zu finden und eine kritische Haltung gegen den Populismus und die Demagogie anzunehmen; dass es uns gelingt, den wichtigsten Wert zu verteidigen, auf den sich unsere Existenz gründet und an den wir glauben: Das Leben.
Mitarbeiterin einer humanitären Hilfsorganisation
*MSF – Ärzte ohne Grenzen
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber