Minderjährige minder geschützt? Von der Landung bis zur Volljährigkeit: Bestandsaufnahme von Aufnahmezentren in Ost-Sizilien
Der Hotspot von Pozzallo sieht seit einigen Monaten einen Container für die „Aufnahme“ unbegleiteter Minderjähriger und Familien vor. Ein Ort, der jenen „gewidmet“ ist, die nach der Landung eigentlich nur einen Zwischenstopp im Hotspot einlegen sollten. Aber leider werden sie dort rechtswidrig zu einem längeren Aufenthalt gezwungen, mit der Erklärung, dies sei „normal und nicht zu verhindern“. Selbst manche Organisationen, die sich eigentlich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen sollten, nehmen diese Lage widerspruchslos hin. Sie sehen davon ab, diese Zustände anzuprangern. Ihnen ist wichtiger, sich ein Stück vom Kuchen zu sichern, den das gewinnträchtige Unternehmen der Flucht bereithält, anstatt jene, die ankommen, zu schützen.
Während manche NGOs täglich Engagement zeigen und Stellung zu den Zuständen beziehen, lässt die von oben diktierte Migrationspolitik den humanitären Organisationen immer weniger Befugnisse, um wirklich zu helfen, Orientierung zu bieten und Schutz zu gewährleisten, Aufgaben, die die NGOs kennzeichnen. Die staatliche Rhetorik zwingt dazu, sich mit dem „weniger Schlechtem“ abzufinden. Auf diese Weise werden die freiwilligen Helfer*innen Teil des Räderwerks, welches ein System aufrechterhält, was auf Kontrolle, Kriminalisierung und Abschiebung der Geflüchteten ausgerichtet ist. Sich selbst eine Ohnmacht attestieren oder die Umstände akzeptieren, weil dies „lohnender“ ist, ist der erste Schritt in Richtung des Stillstands oder schlimmer noch.
Die Umstände, unter denen die Geflüchteten in Italien ankommen und in Italien „willkommengeheißen“ werden, werden immer dramatischer. Nicht davon ausgenommen sind unbegleitete Minderjährige. Der Missbrauch und die Gewalt, von denen wir während unserer Monitoring-Besuche in Kenntnis gesetzt werden, sind schwer auf Papier zu bringen. All das geht seit Jahren so. Man kann deshalb nicht mehr von Gleichgültigkeit sprechen, sondern nur noch von Unmenschlichkeit.
An Hotspot und Hafen. Minderjährige sind Opfer von Menschenhandel
Mitte Juli diesen Jahres ist eine größere Gruppe junger Eritreer*innen mehr als eine Woche im Hotspot Pozzallo festgehalten worden. Viele andere vor ihnen haben bereits dasselbe Schicksal geteilt in den letzten Monaten. Manche Fälle kamen in den Aufnahmezentren an, kurz bevor sie die Volljährigkeit erreichten, sodass es ihnen erschwert wurde, das Verfahren für den Asylantrag für Minderjährige in Gang zu bringen.
Minderjährige wie Volljährige werden hingegen in der Zeltstadt im Hafen von Augusta festgehalten. Obwohl das Thermometer nahezu 40 Grad Celsius anzeigt und die Anlage für solche Verhältnisse völlig ungeeignet istr, setzt man die unmenschliche Behandlung fort und gibt Ermittlungen und Kontrollen den Vorrang, statt geeignete und menschenwürdige Aufenthaltsorte für Schutzbedürftige ausfindig zu machen. Es ist uns in diesem Zusammenhang nicht klar, warum die Ordnungskräfte nicht mit der gleichen Härte, die sie gegen vermeintliche Schleuser anwenden, auch gegen Menschenhändler vorgehen, deren Absicht die Prostitution ist. Solche Bestrebungen von Menschenhändlern sind real und objektiv erkennbar. Schon bei der Landung der Schiffe werden minderjährige Frauen in Erstaufnahmezentren verlegt, in denen sie nicht den erforderlichen Schutz erhalten.
Mitte Juli haben wir einige junge Frauen in einem Erstaufnahmelager in Syrakus getroffen. Hier werden rund 30 Frauen aus verschiedenen Ländern wie Nigeria, Eritrea und Marokko untergebracht. In manchen Fällen hat die Internationalen Organisation für Migration Informationen darüber erhalten, dass sie Opfer von Menschenhandel waren. Trotzdem wurden sie bis zum heutigen Tag nicht in besondere Schutzprogramme integriert. Der Grund, der dafür angegeben wird, ist die Überfüllung der dafür vorgesehenen Einrichtungen. Eine Mitarbeiterin des Zentrums erklärt uns, dass viele der Mädchen bereits das Verfahren um Anerkennung des Schutzes begonnen haben und sind in bestimmter Hinsicht eingeschränkt. Das hat zur Folge, dass sie „ohne einen Vormund nicht aus dem Zentrum herausgehen dürfen, keine Geld erhalten und niemanden unbeaufsichtigt anrufen dürfen“. Diese Auflagen werden aber nicht durch einen erhöhten Schutz gerechtfertigt. Sie bestrafen die Opfer vielmehr als dass sie das Zusammenleben innerhalb des Zentrums erleichtern und den Mädchen helfen. „Ich bin seit 5 Monaten hier und die Tage gehen nur sehr langsam vorbei. Zweimal in der Woche besuche ich einen Italienisch-Kurs. Damit endet aber auch das Angebot. Wir dürfen kaum raus, nicht telefonieren, auch das Essen ist immer dasselbe. Sie sagen, es ist zu unserem Schutz“, erzählt uns im Vertrauen ein Mädchen aus Benin-Stadt. Wir wissen, dass sich viele, wenn nicht Hunderte, in ihrer gleichen Situation befinden. Inwieweit kümmern sich die Institutionen wirklich um sie, trotz aller Konferenzen und hochtrabenden Absichtserklärungen zu diesem Thema? Warum erhöht man nicht die Mittel und bietet mehr Gelegenheiten für den Kampf gegen diesen Handel schon ab dem Zeitpunkt der Landung?
Nicht gespart hingegen wird auf der Front der Abschiebungen und der Militarisierung der Grenzen. In den Häfen sind ganze Mannschaften von Experten , die die Herkunft der Geflüchteten bestimmen und bei ihrer Foto-Identifizierung helfen. Weit weniger Personal ist dem Schutz der Minderjährigen zugeteilt, von ihrer Ankunft am Hafen bis zur Verlegung. „Im Hafen von Catania suchen sich die Betreiber der Lager die jungen Leute selbst aus. Manche „wollen“ Minderjährige unter 16 Jahren, manche weigern sich, gewisse Nationalitäten wie zum Beispiel Ägypter*innen oder Bengal*innen aufzunehmen“, erzählen uns Betreiber von drei verschiedenen Zentren im Landkreis. Höchst diskriminierende Maßnahmen, die nicht das Ziel haben, die Bedürftigen zu schützen, sondern das Betreiben von Zentren „günstig“ und „kosteneffektiv“ zu gestalten. Es wird auf diese Weise zum Beispiel auf Sprach- und Kulturmittler*innen verzichtet, die teures Personal darstellen.
Außerhalb des Systems
„Wir suchen schon seit Monaten nach passenden Zentren, um die jüngst Volljährigen zu verlegen, wie zum Beispiel in den SPRAR*. Wir bekommen aber keine Antworten von den Verantwortlichen in der Präfektur und im Zentralen Dienst. Für uns ist es undenkbar, die jungen Leute auf die Straße zu setzen. Aber es macht das Betreiben der Zentren sehr schwierig“, sagt ein Leiter eines Erstaufnahmezentrums für unbegleitete Minderjährige in Catania. Seine Sorgen kennen viele andere Betreiber, wo das Eintreten der Volljährigkeit auf viele „Unvorbereitete“ trifft. „Wir sind entstanden als Erstaufnahmezentrum für die wirklich allererste Hilfe der Geflüchteten. Jetzt sind wir unter hohem Aufwand dazu gezwungen, uns um alle bürokratischen und administrativen Obliegenheiten zu kümmern, die die Ausstellung und Umwandlung von Dokumenten betreffen, und nicht zuletzt sind wir damit befasst, soziale Dienste, die nicht zu unseren Kompetenzen liegen, zu erfüllen. Diese Dienste sind jedem jungen Menschen geschuldet, wie der Schulunterricht und Ausbildungsmöglichkeiten“, fährt er fort.
Es sind zuviele, die nicht wollen, nicht wissen oder seit zu langer Zeit nicht den angemessenen Schutz von Minderjährigen gewährleisten. Im Hinblick auf die Situation in der Provinz Catania sieht es bei den gerade volljährig Gewordenen immer besorgniserregender aus, die in das Aufnahmezentrum in Mineo verlegt worden sind. Viele andere wurden darüber hinaus noch „aufgefordert“, sich von den Zentren selbstständig zu entfernen.
„Jeden Tag sagten sie mir, dass ich selbst einen neuen Platz finden soll, dass sie mich hier nicht mehr behalten konnten. Seit fast bitte ich um Hilfe bei der Arbeitssuche, aber die einzige Antwort darauf bleibt, ich solle mir ein Beispiel an den Mitbewohner*innen des Zentrums nehmen, die als Tagelöhner auf den Feldern arbeiten, oder für manche Leute aus dem Ort tätig sind“, erzählt uns H., der bis vor wenigen Tagen in einem Aufnahmezentrum in Giarre untergebracht war, über das wir vor einigen Monaten berichteten (LINK).
Momentan wissen wir, dass in dem Zentrum circa 65 Migrant*innen “aufgenommen” werden. Unter ihnen sind junge Männer aus Bangladesch, die keine Möglichkeit haben, über Sprachmittler*innen in ihrer Muttersprache zu kommunizieren. Ihnen steht nur italienisch oder englisch zur Verfügung. Wer hier wohnt, hat die Möglichkeit, in den nahegelegenen Badeorten zu „arbeiten“, indem er dort Waren ambulant verkauft. Das heißt, bei glühend heißen Temperaturen Kilometer zu Fuß abzulegen um am Strand bei Badegästen Ware loszuwerden. Der Höchstumsatz am Tag ist 65 Euro, wovon mindestens 20 Euro beim „Boss“ landen. Über all das wissen die Betreiber der Zentren Bescheid. Sie sehen dieses x-te Beispiel der Ausbeute als Möglichkeit, die desolate Stimmung unter den Geflüchteten in Schach zu halten, die dem Arbeitsmangel geschuldet ist, anstatt darin eine gefährliche und ungerechte Situation zu lesen. Auf der anderen Seite gibt es im Zentrum keinerlei Orientierung oder Angebote, die jungen Menschen in die Arbeitswelt, auch auf Praktikumsebene zu integrieren. „Ich weiß nicht, was ein Lebenslauf ist, ich habe kein Buch, das ich lesen könnte, nur mein Handy, um mich zu informieren und das zu übersetzen, was ich nicht verstehe, wenn sie italienisch mit mir sprechen“, sagt uns ein junger Mann, gerade 18 Jahre alt geworden. „Ich würde gerne in Italien bleiben, aber wenn ich hier keine Arbeit finde, muss ich wohl nach Deutschland“, sagt er. Es ist schwer, seinen Gesichtsausdruck zu beschreiben, als wir ihm sagen, dass es für die Ausreise aus Italien ein gültiges Ausreisedokument braucht und seine Aufenthaltsberechtigung ihm kein Recht verleiht, einen dauerhaften Wohnsitz in einem europäischen Land zu nehmen, da er bestimmte Bedingungen nicht erfüllt. Die Proteste, die sich in Giarre seit Monaten ereignen, werden regelmäßig von Polizist*innen und Carabinieri unterbunden.
Nur das Mindeste anbieten, etwas versprechen, von dem man weiß, dass es nicht gehalten werden kann, nicht korrekt und umfassend darüber belehren, was das italienische Recht vorsieht; die Dauer der Ausstellung von Dokumenten nicht mitteilen: es gibt viele Strategien, um die Menschen zu kontrollieren und in die Schranken zu weisen. Die Zentrumsbetreiber üben Kontrolle aus auf die Neuankömmlinge aus anderen Ländern und gänzlich anderen Kontexten. Das scheint das Ziel zu vieler Betreiber zu sein, die von den Polizeipräsidien genehmigt werden und Zuschläge erhalten. Ihr eigentliches Mandat, Minderjährigen Schutz zu gewähren und eine Sozialisierung zu ermöglichen, gerät dabei völlig aus dem Blick.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.
Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Freialdenhoven