Migranten: Catania, die Ankünfte, die Personen und die Nummern

Von Valeria Brigida – IlFattoQuotidiano

Die junge Frau merkt nicht, dass ihr Baby, das sie auf dem Arm hält, ein Schühchen verliert, als sie auf dem Weg ist vom Schiff Bulwark zum Pavillon zu laufen, wo die Identifizierungen verteilt werden. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes hebt das Schühchen auf, folgt der Frau und gibt ihr das Schühchen zurück. Sie lächelt ihn an. Und gerade in dem Moment, wo sie ihren Arm ausstreckt, um das Schühchen anzunehmen, sehe ich auf ihrem Handrücken eine Zahl: die 55. Ich beobachte die Reihe Menschen, die schweigsam aus dem Inneren des Schiffes Bulwark heraustreten. Vor der Nummer 55 geht ein Mädchen, das auf dem Handrücken die Nummer 54 hat und hinter ihr ein weiteres Mädchen, eine weitere Hand: die Nummer 57.
Am letzten Montag in Catania bin ich Zeugin der Ankunft von mehr als 1.000 Migranten, die aus dem englischen Kriegsschiff Bulwark aussteigen. Das Schiff ist vor wenigen Wochen von Großbritannien entsandt worden, um die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer zu unterstützen. Alle „Geretteten“ – Männer und Frauen, Junge und Alte, unbegleitete Minderjährigen, aber auch kleine Babies auf dem Arm von Mama oder Papa – steigen in Gänsemarsch aus dem Schiff aus und sammeln sich auf dem Pier. Jeder hat auf dem Handrücken eine mit Filzstift geschriebene Nummer. Die gleiche Nummer, diesmal auf einem Stück Klebeband geschrieben, erscheint auf ihren Schultern. Der Reihe nach wird jeder identifiziert: Zuerst muss jeder ein Schild mit einer anderen Nummer neben sein Gesicht halten, für das Identifizierungsbild, dann werden jedem die Fingerabdrücke genommen und dann muss sich jeder auf den Boden hinsetzen – egal ob die Sonne scheint oder ob es regnet – innerhalb eines durch Absperrungen eingekreisten Bereichs, der die Presse auf Distanz hält. Letztendlich, nach Stunden, muss jeder in ein Bus einsteigen, der die Migranten zu einem Aufnahmezentrum irgendwo in Italien bringen wird.

Währenddessen dürfen wir, die Journalisten und die Presseleute, nur zuschauen. Wir sind viele, wir kommen aus der ganzen Welt. Und es sind auch viele Neugierige da, Junge und Alte, die das englische Kriegsschiff sehen wollten, das zwischen den Kreuzfahrtschiffen und den Handelsschiffen hervorsticht. Wenn die Ankünfte tagsüber stattfinden, sieht man oft wie Neugierige mit ihrem Smart-Phone oder mit einer Digital-Kamera Fotos nehmen.

Die wahre Überraschung für mich sind diesmal die Nummern auf dem Handrücken der Migranten.

Wer hat nun diese Nummern mit dem Filzstift geschrieben? Ich nähere mich dem Kommandant der Bulwark und sobald die Interviews mit der Presse beendet sind, frage ich ihn höflich und ruhig nach Erklärungen. Ich habe in der Tat schon mehrere Ankünfte miterlebt, aber diesen „Vorgang“ mit den Nummern auf dem Handrücken sehe ich zum ersten Mal. Der Kommandant antwortet mir, dass es sich um eine fürs Militär „nützliche“ Maßnahme handelt, um sich nicht beim Zählen der Migranten zu verrechnen. Ich kann mir daraufhin eine zweite Frage nicht verkneifen: Wie haben die Geretteten denn auf diese Nummern auf ihrer Haut reagiert? Es folgt eine kurze Pause des Schweigens. Vielleicht hat der Kommandant nicht mit dieser Frage gerechnet. Und dann spricht er weiter, selbstsicher, und sagt, dass die Migranten glücklich sind, gerettet worden zu sein, und dass es ihnen die Nummern auf der Haut komplett egal sind. Er notiert sich meinen Namen in sein Notizbuch und verschwindet.

Und doch diese Nummern rufen Erinnerungen wach, lassen eine nicht allzu alte Vergangenheit wieder aufleben. Warum? Ich habe so viele Fragen im Kopf. Was bedeutet es, für die eigenen „Identität“ eine auf die Haut geschriebene Identifizierungsnummer zugeteilt zu bekommen? Was bedeuten heute in diesem historischen Moment für Europa diese auf die Haut der Migranten geschriebene Identifizierungsnummern?

Vor ein paar Wochen habe ich an einer Diskussion im Senat mit dem Titel „Eine moralische Lektion: Die Gleichgültigkeit – eine Sünde. Europa, die Shoah und das Blutbad im Mittelmeer“ teilgenommen. Zu der Diskussionsrunde gehörten der Senatspräsident Pietro Grasso, der Präsident der Menschenrechtskommission des Senats Luigi Manconi, der Journalist Gad Lerner, der Professor Alessandro Portelli und Piero Terracina, ein Zeitzeuge der Shoah, der einzige seiner Familie, der die Deportation nach Auschwitz überlebt hatte.

Und genau jetzt und hier in Catania, während ich der Landung aus der Bulwark zusehe, erinnere ich mich an die Worte von Piero Terracina, der die „schuldbeladene Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft“ während der Shoah mit der „heutigen schuldbeladenen Gleichgültigkeit“ vergleicht, in Anbetracht der vielen Toten im Mittelmeer. Ich beobachte die Nummern auf dem Handrücken der Migranten und frage mich: Ist es erlaubt, diesen historischen Vergleich zu ziehen?

Ich lasse diese Fragen für ein paar Tagen ruhen. Und dann entscheide ich mich, Rat bei jemandem zu suchen, der mir darauf eine Antwort geben könnte.

Professor Shaul Bassi, Dozent für Literatur und Postkolonialen Theorien an der Universität Ca‘ Foscari in Venedig erklärt mir: „ Analogien sind ein wichtiges Denkinstrument, aber sie sind gleichzeitig eine Falle. Selbstverständlich gibt es einen Unterschied zwischen Nummern, die auf der Haut von Personen, die man retten will, geschrieben werden und wieder weggewischt werden können, und Nummern, die auf der Haut von Personen, die man auslöschen will, tätowiert werden. Das Risiko der Analogie besteht in der Bagatellisierung der Tragödien oder in der Aufstellung einer Rangliste oder Wertung, einer Art Wettkamp der Tragödien, wobei die jeweilige Eigentümlichkeiten verringert werden“. Professor Bassi jedoch stimmt überein bezüglich der Gleichgültigkeit. „Es ist ein Phänomen, worüber sorgfältig nachgedacht werden sollte. Es gibt Personen, die schnell vergessen oder einfach nicht wahrgenommen werden, praktisch ohne Identität bleiben. Vielleicht sind schwarze Körper leichter „beschriftbar“ als weiße Körper, weil wir ja schon daran gewöhnt sind, sie uns als eine identitäts- und namenlose Masse vorzustellen, sie als eine leidende Kollektivität zu sehen und nicht als einzelne Personen mit ihren Eigenarten. Das Meer, in dem sie sterben, ist ein Sonderbereich, der uns ermöglicht, einige von ihnen loszuwerden, ohne uns schuldig fühlen zu müssen. Leider diskriminieren wir sogar die Opfer: Wir untersuchen monatelang und bis ins Detail das Leben von Opfern von grausamen häuslichen Verbrechen, und von anderen Opfern kennen wir nicht einmal die Namen. Ich würde gerne, viel mehr über das Leben der einzelnen Personen erfahren, und deswegen interessiere ich mich für Literatur und schätze sehr die Arbeiten von Schriftstellern wie Igiaba Scego. Ich würde gerne, von der Nummer zurück zu der Geschichte des Menschen gehen. Es wären natürlich nur die Geschichten von wenigen Menschen, in der Masse von Menschen und jedoch könnten diese Geschichten den Gleichgültigen ins Gedächtnis rufen, dass es hier um wahre Leben geht, die in einem Augenblick ausgelöscht werden“.

Aus dem Italienischen übersetzt von Antonella Monteggia