Interview mit Prof. Rosario Mangiameli zur Diciotti-Krise: „Bei der Migration gibt es keinen Notstand, sie ist eine Konstante unserer Geschichte.“

Quelle: hashtagsicilia – Migration, Aufnahme, Integration, das sind die Stichwörter der „Krise“, die sich zur Zeit auf dem Schiff Ubaldo Diciotti abspielt. Das Schiff wird seit drei Tagen im Hafen von Catania festgehalten. Die über 150 Migrant*innen an Bord warten darauf, ihr Schicksal zu erfahren, welches dem Kräftemessen zwischen der italienischen Regierung und der Europäischen Union ausgeliefert ist. Sie sind das Leitmotiv eines historischen Moments, unserer Zeit, in der der Zustrom von Personen aus verschiedenen Kontinenten zunimmt und die westlichen Regierungen unentschlossen darauf reagieren. Dabei ist die Migration längst kein neues Phänomen mehr. Die aktuelle Phase muss deshalb ähnlich wie die Völkerwanderungen in der Vergangenheit angegangen werden, sagt Rosario Mangiameli, Professor für zeitgenössische Geschichte an der Fakultät für Politikwissenschaften an der Universität Catania.

 Prof. Mangiameli, ist die aktuelle Phase von Migrationsbewegungen ein außergewöhnliches Phänomen oder gab es in der Geschichte bereits ähnliche Beispiele?
„Die Migration, das heißt die Ein- und Auswanderung, hat es immer gegeben, von den Anfängen der Geschichte bis zum heutigen Tag. Es gab bewaffnete Völkerwanderungen, wie jene der Goten, Langobarden, Hunnen und Mongolen, oder unbewaffnete, die auf die Bevölkerung zurückzuführen sind, welche nach besseren Lebensbedingungen suchte. Heute ist kein Staat, wirklich keiner, immun gegen das Phänomen der Migration. Im Moment eines Bevölkerungsüberschusses verlässt jemand sein Land, dann kommen andere, um die Entwicklung desselben Landes voranzutreiben. Das beste Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten von Amerika.“

In einer nicht allzu fernen Vergangenheit haben sich viele auswandernde Italiener*innen nach Amerika aufgemacht.
„Und in Italien gab es auch eine interne, oder sogenannte Binnenmigration. Die Menschen sind nicht nur nach Amerika, Argentinien oder Australien ausgewandert, sondern sie emigrierten auch vom Süden in den Norden Italiens. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, denn sie erinnert uns daran, dass die Migration immer die Angst vor dem Fremden ausgelöst hat. Die terroni (ugs., abwertende Bezeichnung für Süditaliener*innen, AdR) waren dreckig und Verbrecher*innen. Die Italiener*innen in Amerika waren hingegen alle mafiosi. Es ist richtig, dass unter ihnen Menschen waren, die der Mafia angehörten, aber nicht alle. Gleich wie nicht alle Terrorist*innen Muslim*innen sind und nicht alle Verbrecher*innen Albaner*innen. Alle Völker haben auch große Arbeiter*innen, die zum Wohlstand des Staates in dem sie leben beitragen.“

Was haben diese Staaten gemacht, um die Migrationsströme zu ihrem Vorteil zu nutzen?
„Sie haben logisch gehandelt. Die Einwanderung zu stoppen ist sicher nicht die Lösung, denn dann findet sie illegal statt. Die richtige Antwort wäre es hingegen, die Einwanderung zu legalisieren. Das demokratische Amerika war unter Roosevelt am erfolgreichsten. Mit dem New Deal erkannte der Präsident den Einwanderer*innen die Staatsbürgerschaft an. Indem er sie aus der Krise befreite, verwandelte er sie in eine demokratische und wirtschaftliche Ressource für sein Land. Diesen Themen müssen wir offen begegnen, das ist das Wichtigste.“

Unsere Stadt Catania durchlebt in diesen Tagen eine dramatische Phase. Die Diciotti-Krise hält an, das Schiff wird seit Tagen in unserem Hafen festgehalten.
„Ich möchte jene Freund*innen grüßen und mich ihnen anschließen, die die Migrant*innen gestern mit arancini* versorgt haben. Wäre ich in Catania gewesen, hätte ich mich ihnen gern angeschlossen. In Anbetracht dieser Krise muss wiederholt werden, dass die Einwanderung an und für sich keinen Notstand darstellt. Die Einwanderung könnte abgewickelt werden, ohne jeglichen Alarm auszulösen. Der Notstand wird jedoch für spezifische Zwecke gebraucht.“

Was sind das für Zwecke?
“Zunächst dient er der politischen Instrumentalisierung über die Angst des Fremden, des Anderen. Außerdem hat der Notstand ein wirtschaftliches Ziel. Er schafft billige Arbeitskräfte, die über keinerlei Rechte verfügen und ausgenutzt werden können. Es sind genau jene, die diese Personen ausnutzen, die die Spaltung zwischen den Arbeiter*innen wollen, um Trennung und soziale Notstände auszulösen. Wer die legale Einwanderung ablehnt will die illegale Einwanderung, die später ausgenutzt werden kann. Mit einer gesetzlichen Regelung der Einwanderung würde sich auch der Arbeitsmarkt verändern.“

Viele Behaupten, dass Europa für diese Situation verantwortlich ist. Gleichzeitig wird die Rückkehr zur nationalen Souveränität beschworen.
„Es steht außer Zweifel, dass Europa zu wenig aktiv ist. Heute gibt es die nationale Souveränität nicht mehr, sie ist Teil der Souveränität der Europäischen Union geworden. Doch in einer globalisierten Wirtschaft, in der wirtschaftliche Akteur*innen oft viel mächtiger sind als die einzelnen Staaten, ist das auch notwendig. Ein normaler Staat kann seine Wirtschaft, unter diesen Umständen, nicht mehr regulieren. Auch mit der alten Währung, der lira, würde das nicht mehr funktionieren. Souveränität und Nationalismus sind zwei reaktionäre Utopien.“

 Wie müsste Europa also handeln?
„Eine Lösung wäre ein europäischer Reisepass für alle, die in unseren Häfen ankommen. Ich spreche dabei nicht von einer Staatsbürgerschaft, die es eventuell in einem zweiten Moment geben könnte, sondern von einem europäischen Ausweis. Das Datennetz würde den Geflüchteten erlauben, sich frei in Europa zu bewegen, ohne in Ghettos, auf die Straßen und bettelnd an die Ampeln zurückgedrängt zu werden, wo sie häufig in die Hände der organisierten Kriminalität geraten.“

Herr Professor, wenn Sie auf Innenminister Salvini treffen würden, was würden Sie ihm angesichts dieser Krise und ihrer Handhabung sagen?
„Als Bürger von Catania würde ich ihn dazu einladen, mehr Toleranz an den Tag zu bringen. Als Bürger Italiens würde ich ihn dazu auffordern, seine Wortwahl besser abzuwägen. Gestern sagte der Innenminister, dass die Minderjährigen der Diciotti von Bord gehen durften, während die anderen an Bord „anwachsen“ könnten. Was ist das für eine Sprache? Es scheint mir, als versuchten unsere Regierenden, allen voran der Innenminister, unser Gefühl für Demokratie mittels der Sprache zu zerstören. Die Wortwahl muss gemäßigt werden und wir müssen wieder zur Sprache der italienischen Verfassung zurückkehren.“

 

Valerio Musumeci
Hashtag Sicilia
*Arancino, Pl. arancini: Sizilianische Reisbällchen

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner