Der Notstand der zu Gewalt führt
Der Notstand als einzige Antwort. Das ist die Reaktion der Institutionen auf anhaltende Massaker und Terror auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene. Eine Antwort die geradezu herbeigerufen wird durch die Art und Weise auf der mit dem Migrationsphänomen in Sizilien umgegangen wird. Wenn wir uns daran erinnern, dass ein Notstand eine „sich plötzlich ereignende Situation“ beschreibt, „der man unmittelbar begegnen muss“, verstehen wir wie ungeeignet dieses Wort in Zusammenhang mit der Ankunft, Verteilung und „Aufnahme“ von Geflüchteten ist. Einen bereits seit Jahren andauernden Notstand regelrecht zu systematisieren, belegt deutlich den politischen Willen der beteiligten Akteure, sowie mangelnde Transparenz und Engagement seitens der Institutionen die Bürger am tatsächlichen Geschehen teilhaben zu lassen.
Wir wissen, dass Migration ein strukturelles Phänomen unserer Gesellschaft ist und dass der Notstand zu oft zur Aussetzung der fundamentalen Menschenrechte von Männern, Frauen und Kindern geführt hat. Aber vor allem finden wir anhaltende konkrete Beispiele, die belegen, wie die notfallartige Antwort auf Migration zu nichts als weiterer Gewalt führt.
Wir beginnen damit uns über italienische und europäische Wirtschaftspolitik zu informieren und über die Handelsverträge mit den betreffenden Ländern aus denen die Menschen flüchten, über den Verkauf von Waffen an diejenigen, die damit Massaker begehen und über den Bau von physischen und bürokratischen Hürden, die es den Migrant*innen, anders als den Europäer*innen, unmöglich machen sich frei und sicher zu bewegen.
Betrachten wir außerdem die Migrationspolitik der letzten Jahre und die tiefen Widersprüche zwischen den bürgerlichen Werten, den humanitären Verpflichtungen als deren Schutzpatronin Europa sich sieht und die Situation der Menschen, die in unseren Ländern nach Überlebenschancen und einer menschenwürdigen Zukunft suchen.
Im Anbetracht der Tatsache, dass tausende Menschen dazu gezwungen sind, sich in die Hände von Schleppern zu begeben und Wege einzuschlagen, die sie oft direkt in den Tod führen, baut Europa nur neue Mauern und rüstet militärisch seine Fronten auf. Die Ankünfte an unseren Küsten sind also das Ergebnis eines vorhersehbaren Massakers und sicherlich keine Frage des Notstands.
Es bleibt sicherlich die Notwendigkeit auf die bestmögliche Art auf die katastrophalen Umstände zu reagieren, die von unserer derzeitigen Gesellschaft produziert werden. Aber diese Notstandssituation nur bewerkstelligen zu wollen und sie dabei nicht anzuklagen, führt nur dazu, zu ihrem weiteren Erhalt beizutragen. Das bedeutet nicht,dass die Komplexität der aktuellen Lage außer Acht gelassen werden sollte, sondern es muss sich der Verantwortung seitens der beteiligten Akteure bewusst werden und es muss versucht werden, die aktuelle Situation zu verändern, da Menschenleben mit im Spiel sind.
Seit Beginn des Jahres 2016 haben rund 7000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unsere Küsten erreicht: erst jetzt spricht man in Sizilien von einer Unterbringung dieser Jugendlichen nicht nur in den Ankunftsregionen sondern auf dem gesamten italienischen Staatsgebiet. Inzwischen zählt man die Jugendlichen nicht mehr, die einfach verschwinden oder die dazu verurteilt sind ihre Jugend völlig einsam vernachlässigt zu verbringen. Minderjährige, die über Wochen in den Hotspots festgehalten werden (erst vor einigen Tagen waren es noch 170 im Zentrum von Pozzallo) oder an anderen völlig ungeeigneten Orten.
Am 15. Juli haben 366 Geflüchtete Augusta erreicht, die Zeugen vom Tod von mindestens 20 Mitreisenden werden mussten. Die Opfer waren vom Meer verschluckt worden, nachdem ihr Schlauchboot gesunken war. Unter ihnen befand sich auch die Leiche einer jungen Ghanaerin, die wahrscheinlich während der Rettungsmaßnahmen ertrunken ist. Die Migrant*innen kommen aus Nigeria, Eritrea, Äthiopien und anderen vorrangig sub-sahara Ländern, wo Gewalt und Unterdrückungen seitens der diktatorischen Regime an der Tagesordnung und die Beweggründe weit weg von der Aufmerksamkeit der Europäer sind.
In der Zwischenzeit geht die Flucht weiter. So kommen seit gestern weitere 25 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu den 70 hinzu, die bereits in der Zeltstadt des Hafens untergekommen sind. Trotz der Umsiedlung in Regionen außerhalb Siziliens von mindestens 300 Geflüchteten, ist die Lage immer noch kurz vor dem Kollaps, in Anbetracht der 130 immer noch anwesenden Geflüchteten und der Aussicht der Ankunft von 443 Weiteren am morgigen Abend.
Vergegenwärtigen wir uns, dass ein Hafen nicht die strukturellen Eigenschaften eines Aufnahme- und Unterkunftszentrums für Migrant*innen besitzt, schon gar nicht für Verletzte oder unbegleiteten minderjährige Flüchtlinge. An einem Hafen kann eine ärztliche, juristische, psychologische und materielle Versorgung nicht garantiert werden, ganz zu Schweigen vom individuellen Schutz, der vom Gesetz vorgesehen ist. Eine zweifelsohne inakzeptable und besorgniserregende Situation, die riskiert ein Dauerzustand zu werden, wenn ihr weiterhin nur als „Notstand“ begegnet wird.
Vor wenigen Tagen haben wir verschiedene unbegleitete minderjährige Flüchtlinge am Bahnhof von Catania getroffen. Einige von ihnen haben uns berichtet, dass sie direkt vom Hafen von Augusta gekommen seien. Dort hätten sie die Umstände nicht mehr ausgehalten und seien einen Tag und eine Nacht gelaufen, um ihre Reise in Richtung einer besseren Zukunft fortzusetzen, die in Italien unmöglich scheint. Jugendliche, die jeglicher Ausbeuterei ausgesetzt scheinen, die sich entscheiden ihre Reise fortzusetzen trotz tausender Gefahren, die auf dem Weg lauern, um nicht in ein System zu geraten, dass alles zu tun scheint, außer ihnen Schutz und Gehör zu schenken, sie zu informieren und sie mit den eigenen Angehörigen in Kontakt zu bringen. Minderjährige von 15-Jahren, die sich unter heißesten Temperaturen auf einen Fußmarsch begeben, wie ein Junge der drei Tage von Caltanissetta nach Catania gelaufen ist, wo wir ihn vor einer Woche kennengelernt haben. Diese sind die Ergebnisse einer Notstands-Herangehensweise, die von demjenigen gutgeheißen wird, der Gewinn aus der Verzweiflung anderer schlägt.
Situationen außerhalb jeglicher Kontrolle, die Spuren hinterlassen und sicherlich nicht das Zusammenleben dieser Jugendlichen vereinfachen, wenn sie einmal in die Zentren umgesiedelt wurden. Vor wenigen Tagen erst ist die Polizei eingeschritten um einen Streit zwischen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen des Zentrums „Zagare“ zu schlichten, ein Zentrum in der Nähe von Syracus, welches inzwischen vor allem zur Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge genutzt wird, obwohl es wie die anderen Zentren für die Aufnahme von Erwachsenen und Familien vorgesehen war.
„Fast alle Neuankömmlinge entfernen sich nach nur wenigen Tagen. Sie nehmen Kontakt mit ihren Landsleuten auf, die hier sind und dann verschwinden sie. Wir sind nur hier, weil wir keine Freunde oder Verwandte in Europa haben“, erklären uns einige Jugendliche, die in einem Zentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Catania untergekommen sind und seit Monaten auf einen Tutor oder wenigstens auf einen Italienischkurs warten. „Keiner spricht Englisch, wenn es gut läuft kommt ein Mediator für einen halben Tag, der sich um 80 Leute kümmert. Wie kann man da nicht den ganzen Tag über an etwas Anderes nachdenken als Flucht? Jede Anfrage zur Aufklärung oder zu den Dokumenten wird mit der Androhung von Polizei beendet“. Durchsetzung von Gewalt statt Dialog, Handhabung der Situation am Rande des Erträglichen in Bezug auf das Recht auf Gesundheit und Informationsvermittlung und nicht zuletzt die „Notwendigkeit“ die Menschen festzuhalten, sie wie Pakete herumzuschieben und „anzuhäufen“ wie Pakete ohne an ihre Vergangenheit oder ihre Zukunft zu denken. Ein „Notstand“, der bisher nur zu mehr Toten, zu mehr Verschwundenen und zu mehr „Unsichtbaren“, geführt hat, denen jegliche Rechte untersagt werden. Ein völlig falscher Ansatz und ein klares Zeichen, dass es Zeit ist, etwas zu verändern.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlu
Aus dem Italienischen von Giulia Coda