Erstaufnahmeeinrichtung für minderjährige Geflüchtete in Giarre: die Jugendlichen melden sich zu Wort

Giarre, eine Gemeinde am Hang des Ätna mit ca. 27.000 Einwohner*innen, hat in den vergangenen Jahren diverse Einrichtungen für unbegleiteten minderjährige Geflüchtete beherbergt. Es waren Projekte, deren Problematiken wir angeprangert haben. Diese wurden infolge der Intervention des Sozialamts geschlossen, um dann wieder von den gleichen Betreibern woanders eröffnet zu werden. Auf diese Art wurde die Logik der Macht und des Geschäfts befolgt, die nur sehr schwierig zu bekämpfen ist.

Die Erstaufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Giarre (CT)

Im Januar 2016 hat die Genossenschaft San Giovanni Battista den Betrieb einer Erstaufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete übernommen, die am Park “Chico Mendez” gelegen ist. Das Gebiet ist einige Kilometer von der Altstadt Giarres entfernt, aber ausreichend an öffentliche Verkehrsmittel angebunden. Die Einrichtung müsste zu denjenigen gehören, die gemäß des Präsidialdekrets Nr. 600 von 2014 eröffnet worden sind. Diese sehen eine Aufnahmekapazität von 60 Personen vor, sowie einen maximalen Aufenthalt von drei Monaten, entsprechend der strengen, klar ausformulierten Aufnahmestandards.

Im Juni 2016 werden wir von einer Gruppe von Bewohner*innen der Aufnahmeeinrichtung und einigen Ehrenamtlichen der nahe gelegenen Kirchengemeinde angesprochen. Sie bitten uns um Unterstützung aufgrund des „schwierigen Managements“. Wir treffen sie im Park und beginnen den Erzählungen über die ersten Monate, die diese Jugendlichen in Italien verbracht haben, zuzuhören. Wir versuchen, die Problematiken nachzuvollziehen, und deren Wandlung von den anfänglichen Befürchtungen hin zu einem tatsächlichen Alarmzustand. “Wir sind jetzt um die 80 aber in den ersten Monaten waren wir auch 100 Personen”, (bei einer maximalen Aufnahmekapazität von 50). Die Einrichtung ist sehr groß, wir schlafen in Zimmern mit zwei oder drei Betten. Es gibt Gemeinschaftsräume, einen Fernseher, eine Tischtennisplatte und WIFI. Wenn man ankommt, hat man kein Geld, so dass man zum Teil wochenlang nicht zu Hause anrufen kann. Die Betreuer sagen uns, wir sollen unsere Mitbewohner*innen fragen, ob sie uns ihre Mobiltelefone ausleihen, und wir geben unser Taschengeld aus, um uns auf Raten Telefone zu kaufen und um diese mit Guthaben aufzuladen.” Ein Teil des Taschengeldes wird auch zum Kauf neuer Kleider ausgegeben, da Minderjährige nur ein Kleidungswechsel zusteht. Vor allem Essen wird von dem Geld dazugekauft, als Ersatz zu dem, was in der Aufnahmeeinrichtung ausgeteilt wird, wovon sie sagen dass es „wenig und von schlechter Qualität sei“. Einigen Fotos, die sie uns zeigen, können wir die geringen Portionen entnehmen.

Was die Jugendlichen aber wirklich beunruhigt, ist ein anderes Problem. Vor allem das der Dokumente: Die einzigen Informationen, die sie über das sie erwartende Verfahren erhalten, sind die wenigen, die sie von dem Team Save the Children bei der Ankunft erhalten haben, anschließend folgte lediglich Schweigen oder immer die gleiche Antwort der Betreuer: „man muss abwarten“.

Das gleiche gilt für die Zuteilung eines Vormunds: die Mehrheit der anwesenden ist vor fünf oder vier Monaten angekommen, aber nur wenige haben das Glück gehabt, einen Vormund zugeteilt bekommen zu haben. Diese sagen, dass sie manchmal von ihm*ihr hören; sie führen allerdings nur kurze und wegen der Sprache für sie schwer verständliche Gespräche. “Der Vormund wiederholt, dass es notwendig sei, Geduld zu haben und zu warten”, ohne zu erklären, worauf. Die Jugendlichen fühlen sich allein gelassen und verwirrt von den ärztlichen Untersuchungen, Analysen und den Blutabnahmen, vor denen sie Angst haben, da ihnen niemand erklärt, worum es sich hierbei handelt. Der Vormund ist immer abwesend, auch in schwierigeren gesundheitlichen Fällen und bei der Einlieferung im Krankenhaus. Einige berichten, dass sie sehr krank gewesen seien, und dass sich die „Verwalter*innen“ (die Bezeichnung wird von allen für die Mitarbeiter*innen der Einrichtung verwendet) nichtsdestotrotz als einzige Lösung an den Notdienst nach langem, gleichgültigem Abwarten gewandt hätten.

Es wird uns ein Video gezeigt das einen Jungen aufnimmt, der schreiend mit dem Krankenwagen weggebracht wird. Sie erzählen uns die Geschichte eines sehr jungen eritreischen Jugendlichen, de ca. 13 Jahre alt sei, vollkommen allein und verwirrt, unfähig jemanden zu finden, der seine Sprache verstehe, und in der Einrichtung in einem bereits kritischen Zustand angekommen sei. “Nur mühsam schaffte er die Treppen zu steigen, um sein Schlafzimmer zu erreichen. Er spuckte Blut und war immer völlig erschöpft”. Eines Tages wurde die Einlieferung ins Krankenhaus angeordnet, wo er einige Wochen lang blieb. Bei seiner Ankunft schien es, als habe sich der Jugendliche leicht erholt, aber nach einigen Tagen habe er überraschend die Einrichtung „auf eigene Faust“ verlassen. Es gibt über ihn keine Informationen mehr, genauso wenig wie von Dutzenden Jugendlichen, die sich nach wenigen Wochen oder Tagen nach der Ankunft absetzen. Unter ihnen gibt es viele Somalier*innen und Eritreer*innen, die meistens auch jünger als 15 Jahre alt sind.

Auch der Italienischunterricht scheint eine Illusion zu sein und wird mit Inbrunst von den Anwesenden gefordert. Sie sind bis zur Pfarrgemeinde gegangen, um Unterstützung zu erbitten: “Man hat uns gesagt, dass wir ab Juli für einen Kurs angemeldet worden seien, was aber nicht erfolgt ist. Zurzeit haben wir zweimal die Woche Unterricht, aber nicht alle.” Die Gruppe von Jugendlichen mit der wir sprechen hat diverse Briefe geschrieben, die sie den „Verwalter*innen“ sowie dem Verantwortlichen der Einrichtung übergeben hat. „Da sie uns nicht zuhören, haben wir gedacht unsere Rechte schriftlich zu formulieren und einzufordern”. Sie fordern einen Vormund, Italienischunterricht, die Möglichkeit, sich in dem Gebiet zu integrieren und die Moschee von Catania leichter besuchen zu können. Einer dieser Briefe ist der Staatsanwaltschaft am Jugendgericht von Catania übergeben worden von einem Ehrenamtlichen. Vier Jugendliche haben die Anfrage formal eingereicht, indem sie sich einige Tage später zu den Geschäftsstellen begeben haben. „Wir haben unsere Daten überlassen und ein Papier unterzeichnet. Wir können aber nichts anderes sagen. Wir hoffen”.

Wir melden den Fall und verbleiben in Kontakt mit den Jugendlichen, die uns bitten derzeit nicht mit den „Verwalter*innen“ der Einrichtung zu sprechen, weil wir mit ihnen zusammen gesehen wurden. Sie fürchten sich vor den Folgen. Wir wissen, dass Ende Juni 2016 einige Personen der Staatsanwaltschaft von Catania die Einrichtung besucht haben und mit der Leitung gesprochen haben. Die Situation dauert unverändert seit Wochen an, während einige Bewohner*innen die Volljährigkeit erreichen, ohne dass sie die Anträge auf Papiere haben einreichen können.

In der Zwischenzeit kommen immer wieder neue Bewohner*innen an und andere entfernen sich während des Herbstes. Manche aber bleiben auch, nachdem sie 18 Jahre alt geworden sind und ihre Papiere erhalten haben, an einem Ort der Erstaufnahme, wo der vorgesehene Aufenthalt maximal drei Monate beträgt. In der Einrichtung mangelt es nicht an Protesten der Jugendlichen, die durch das Herbeirufen der Polizei oder der Carabinieri beendet werden. Die Qualität des Essens scheint sich gebessert zu haben und viele besuchen die Nachmittags-„Schule“.

Wir kehren Anfang März nach Giarre zurück, um die Betreiber zu fragen, die Einrichtung besuchen zu können. Bei dieser Gelegenheit treffen wir auch das Team von Terres des Hommes, das jeden Donnerstag mit dem Projekt Faro anwesend ist. Sie leisten psychologischen Beistand und bieten sozialpädagogische Aktivitäten an, wie unter anderem das Sprachkursangebot. Wir werden bei unserer Ankunft von einer Mitarbeiterin empfangen, die uns empfiehlt per E-Mail einen schriftlichen Antrag zu stellen. Sie bestätigt uns die bevorstehende Verlegung von einigen minderjährigen Jugendlichen in die Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Mineo. Es gibt Dutzende ähnlicher Fälle. Auch einige Jugendliche, die wir kurz danach draußen kennenlernen und treffen, müssen zum x-ten Mal die von der Präfektur auferlegte illegale Praxis erleiden. Diese wird weder von der Einrichtung behindert noch in irgendeiner Weise angeprangert. „Seit wir angekommen sind, hoffen wir, in ein SPRAR* verlegt zu werden. Dann sagt man uns von einem Tag auf den anderen, dass wir nach Mineo gehen werden”, vertraut uns M. an. Für ihn, der kurz vor dem Realschulabschluss steht, wird es schwer werden, seine Prüfungen abzulegen. Es vergehen zwei, drei, vier Wochen, während denen wir telefonisch und per Mail wiederholt die Betreiber um eine Reaktion bitten: Bei dem x-ten Telefonanruf teilt uns die Koordinatorin mit, dass unser Besuch „in diesem Moment nicht machbar“ sei, und sich weigert, den Grund zu nennen. Eilig beendet sie das Gespräch.

Da wir daran gehindert sind ein Gespräch mit den Betreibern zu führen, überwachen wir weiterhin die Situation von außen und melden die festgestellten, kritischen Punkte den Zuständigen. In diesem Moment beherbergt die Einrichtung 50 Jugendliche, von denen mehr als die Hälfte gerade erst volljährig geworden sind. Sie kommen überwiegend aus Nigeria, Mali, Senegal, aus der Elfenbeinküste, aber auch aus Ghana und Eritrea. Das Durchschnittsalter beträgt 16/17 Jahre. Seit Monaten werden keine Neuankünfte registriert und die „spontanen“ Weggänge betreffen durchgehend alle Nationalitäten: “Wir bleiben, weil wir keine Verwandten oder Kontakte im Ausland haben”, sagten uns die Jugendlichen vor einem Jahr, Aber dieser Satz ist immer noch sehr aktuell.

M. sagt uns: “Seit mindestens einem Monat gehen wir nicht zum Unterricht. Die Schule ist weit entfernt, der Bus ist kaputt und man kann uns nicht begleiten. Im März wurde uns nicht einmal Taschengeld gegeben. Wir haben darum gebeten, mit dem Verantwortlichen zu sprechen, den Grund zu erfahren. Die Koordinatorin aber hindert uns an einem Treffen mit ihm. Manchmal passiert es, dass derjenige, der sie um Erklärungen bittet, das Büro mit Tabak wieder verlässt, auch wenn er minderjährig ist, oder mit einem paar Euros, aber mit keiner Information”. Einige Jugendliche sind schon im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, aber, obwohl ein Jahr vergangen ist, sind sie noch nicht verlegt worden: „Wenn ihr möchtet, seid ihr frei in jedem Moment zu gehen”, ist die meist gegebene Antwort an denjenigen, der die Verlegung fordert oder um Informationen über die eigene Zukunft bittet. R., Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, möchte einen Pass beantragen. Der einzige Hinweis aber, den er erhalten hat, war es, sich direkt nach Rom zur Information bei der Botschaft seines Herkunftsstaates zu begeben, ohne Ihn bei den Reisekosten, Verfahrenskosten, und in irgendeiner Weise bei der Durchführung des Verfahrens zu unterstützen.

Die Rechtfertigung, dass eine Notfalleinrichtung betrieben wird, ist inakzeptabel, da hier die Zukunft eines Jugendlichen auf dem Spiel steht. Man wohnt hingegen dem fehlenden Schutz der Grundrechte bei: “Man nimmt uns Blut ab und kontrolliert uns, aber wenn wir krank sind, werden uns bloß ein paar Schmerzmittel ausgehändigt. Wenn jemand an seinem Limit angekommen ist, ruft man den Notarzt. Man muss sich ihn aber wirklich verdienen”. Diverse Jugendliche besitzen noch keine Steuernummer und Krankenversichertenkarte, obwohl sie bereits seit einem Jahr oder fast einem Jahr angekommen sind. Manche beschweren sich über Konzentrationsschwierigkeiten, Angstzustände, Albträume und wiederkehrenden Sorgen, weil sich die Hoffnung, eine Zukunft aufzubauen, täglich immer mehr zersplittert angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten. L. sagt uns: “Viele von uns arbeiten auf den Feldern für ca. 20-25 € am Tag und mit großer Wut. Einige haben wochenlang gearbeitet, ohne am Ende einen Euro zu bekommen. Aber wenn man verdienen möchte, gibt es hier nicht viele Alternativen”. Keine Hilfe, um sich in die Arbeitswelt legal einzufinden, einen Lebenslauf zu erstellen, einen Kontakt zu Vereinen, die Hilfe leisten können, zu erhalten. Eine traurige und logische Folge des Handelns derjenigen, der den Jugendlichen nicht einmal den Besitz der wichtigsten Dokumente garantiert.

“Von allen war nur der Übersetzer bereit, mir bei der Steuernummer zu helfen. Ich hoffe, dass ich sie bald erhalte, um eine Arbeit zu suchen und endlich gehen zu können”, sagt R. Nach sechs Monaten in Libyen und einem Jahr in Italien. Viele sind in seiner gleichen Situation: Opfer von Gewalt, eines ablehnenden Systems und der Praxis der schlecht funktionierenden Verwaltung, die von den Präfekturen weiterhin toleriert wird und von der öffentlichen Meinung weiterhin stur als „Aufnahme“ bezeichnet wird.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

 

*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.

Übersetzung aus dem Italienischen von Lan Gatti