AUFRUF FÜR EINE WÜRDIGE AUFNAHME IN CATANIA
Die Küsten Siziliens sind das Hauptziel von tausenden von Migranten, die versuchen, ihr eigenes Leben
vor Krieg, Verfolgung, Gewalt, Hungersnot und Elend zu retten. Viele von ihnen sind
bereit ihr Leben zu riskieren, um aus den Ländern, in denen sie leben, zu
fliehen: Von 2011 bis heute sind ca. 4500 Migranten bei dem Versuch, Europa zu
erreichen, gestorben, davon alleine in den ersten sieben Monaten dieses Jahres
700. Wem es gelingt zu überleben, kommt in einem psychisch und physisch extrem
kritischen Zustand an.
Viele der Überlebenden haben
wochen- oder monatelange Reise hinter sich, auf denen sie wenig oder nichts zu
essen und zu trinken hatten. Sie haben die Wüste durchquert und das Meer
überquert. Dabei haben sie neben sich Freunde und Familienangehörige sterben
sehen; sie haben Gewalttaten, Folter, seelische und körperliche Verletzungen
erlitten. Diese Personen sind menschliche Wesen, denen klare und
unveräußerliche Rechte zustehen, die, weil sie ihrer Art nach fundamentale
Rechte sind, nicht begrenzt und noch weniger, ihnen versagt werden können.
Folglich muss jede Art und jedes Programm der Aufnahme die Achtung dieser
Rechte immer einschließen. Was man aber in Catania und anderen Teilen Siziliens
miterlebt, ist eine ständige Verweigerung dieser Rechte. Seit Jahren betreibt
das Antirassistisches Netzwerk Catania in der Stadt eine ständige Aktivität zur
Unterstützung der Migranten und des Monitoring und der Anprangerung der
Behandlung, die ihnen widerfährt. Das, was daraus hervorgeht, ist unter
verschiedenen Gesichtspunkten ein extrem kritisches Bild, was sich zusammenfassen
lässt als eine offensichtliche Verletzung der Rechte und der Würde der
Migranten, die in der Stadt „aufgenommen“ werden. Im Licht dessen, was wir
selber haben verifizieren können, indem wir die Orte besucht haben, an denen
die Migranten „beherbergt“ werden und auf der Grundlage dessen, was an
zahlreichen Zeugenaussagen der Migranten selber gesammelt wurde, halten wir es
heute mehr denn je für grundlegend, präzise Forderungen nach vorne zu bringen,
mit dem Ziel, neue Verletzungen der unveräußerlichen Rechte eines jeden
Menschen, Rechte, die von der internationalen Gesetzgebung, von der EU und von
der italienischen Verfassung selber aufgestellt worden sind, zu verhindern:
-Angemessene Zentren zur
ersten Aufnahme vorzubereiten, die ausgestattet und in der Lage sind, würdige
Lebensbedingungen zu garantieren. Einrichtungen wie Kasernen, Turn- und
Sporthallen – und insbesondere das PalaSpedini (eine Basketballhalle), das in
den vergangenen Wochen oft genutzt wurde -, sind insgesamt unangemessen
(Klimabedingungen, fehlende Privatsphäre, sehr wenige Bäder und Duschen, keine
Betten). Sie zwingen die Migranten unter Bedingungen extremer Unbequemlichkeit zu
leben. Stattdessen sollten vielmehr die ehemaligen Krankenhäuser der Stadt
genutzt werden. Sie sind in gutem Zustand und geeignet, Menschen zu
beherbergen, die einen dringenden Bedarf an Pflege haben und daran, ihre
eigenen Rechte kennen zu lernen (das Asylrecht inbegriffen). Gleichzeitig
müssen Situationen der Überbelegung absolut vermieden werden, sowie der
Aufenthalt in den besagten Zentren der ersten Aufnahme auf höchstens 72 Stunden
begrenzt werden. In fast allen Fällen, die von uns beobachtet wurden, wurde ein
Missbrauch dieser Einrichtungen festgestellt. Viele Migranten sind gezwungen,
für einige Wochen darin zu wohnen, ohne Informationen zu erhalten bezüglich der
Gründe dieses verlängerten Aufenthalts und noch weniger bezüglich der
Aufenthaltsdauer.
-Jede und jeden mit einer
angemessenen und sofortigen ärztlichen und gesundheitlichen Betreuung zu
versorgen, mit besonderem Augenmerk auf die „verletzlichen“ Personen (Frauen,
Minderjährige, Personen mit speziellen körperlichen und seelischen Störungen). Wie
wir es im Fall der kürzlich in PalaSpedini untergebrachten Migranten (wie auch
in zahlreichen anderen Fällen in der Vergangenheit) mehrfach festgestellt und
gemeldet haben, wird sehr oft keine ärztliche und gesundheitliche Grundversorgung
– die ein Grundrecht darstellt –durchgeführt. Gleichzeitig wird verschiedenen
verletzlichen Personen nicht beigestanden und sie werden nicht weiter
begleitet. Das sind die Hauptkritikpunkte, die im Laufe der vergangenen Monate
in PalaSpedini festgestellt wurden: Keine Ausgabe des Ausweises STP (für
medizinische Behandlung), kein Gesundheits-Screening und/oder keine andere
ärztlich-gesundheitliche Kontrolle der neu angekommenen Migranten; keine
Überprüfung und kein medizinischer Beistand für Kinder, Frauen (Schwangere
eingeschlossen), Minderjährige und Erwachsene mit unterschiedlichen Störungen
(Atemprobleme, Hautprobleme, starke Schmerzen); keine Versorgung mit
Medikamenten. Darüber hinaus wurde in den letzten Wochen auch die Versorgung
mit grundlegenden Dingen des Lebens unterbrochen: Seife, Zahnbürste, Zahnpasta,
Handtücher wie auch die Versorgung mit Schuhen und Kleidung (sehr viele
Migranten waren barfuß und mit nur einem T-Shirt und einer Hose). Einigen
dieser Kritikpunkte sind die Aktivistinnen und Aktivisten des Antirassistischen
Netzwerks entgegen getreten und haben sie ganz unentgeltlich gelöst. Sie haben auch
die Neuzugänge aus eigener Tasche mit Medikamenten, Schuhen, Wörterbüchern etc.
versorgt. Angesichts der Schwere und der Wiederholung dieser Kritikpunkte
fordern wir daher einen konkreten Einsatz der involvierten Institutionen
(Präfektur, ASP (örtlicher Gesundheitsdienst), Zivilschutz, Gemeinde), die bis
jetzt, soweit wir das festgestellt haben, die Angelegenheit ignoriert oder die
Verantwortung auf andere Einrichtungen abgeladen haben.
-Die Migranten sofort mit
den grundlegenden Informationen bezüglich ihrer Grundrechte und bezüglich des
Antrags auf internationalen Schutz zu versorgen, kurz nachdem sie das
italienische Territorium erreicht haben. Die Möglichkeit, informiert zu werden,
ist ein weiteres Grundrecht, das von allen Gesetzgebungen in der Sache
anerkannt wird; aber in der Realität kommt es niemals dazu. Außerdem besteht
die übergroße Mehrheit derjenigen, die in Catania oder auf Sizilien ankommen,
aus potentiellen Asylsuchenden, weil sie aus Ländern kommen, in denen Krieg,
Gewalt und Verfolgung herrschen. Auch in diesem Fall haben die
Antirassismusvereine diese schwerwiegende Lücke zum Teil gefüllt, indem sie
zahlreichen Migranten im PalaSpedini, neben mündlichen Informationen zu diesem
Thema in Englisch und Französisch, einen Leitfaden zum Asylantrag überreicht
haben; und sie haben einigen ein Telefonat ermöglicht, um ihren
Familienangehörigen zu versichern, dass sie noch am Leben sind. Mit diesem
Gesichtspunkt ist eng die Notwendigkeit verknüpft, über sprachlich-kulturelle
Mediatoren zu verfügen, die in der Lage sind, mit den Migranten zu interagieren,
sei es um ihre Anträge und Anfragen zu sammeln oder um sie mit den notwendigen
Informationen zu versorgen, die oben genannt wurden. Weder in den letzten
Wochen, noch in den Monaten davor haben wir einen solchen Mediator im
PalaSpedini angetroffen. Eine andere Forderung, die wir von allen Migranten
gehört haben, ist die, ihre Familienangehörigen und Freunde kontaktieren zu
können, sei es in ihrem Heimatland oder in Europa. Keine(r) von ihnen hat die
Möglichkeit gehabt, ein Telefongespräch zu führen noch das Internet zu nutzen,
um mittels E-Mail oder Facebook seine Ankunft mitzuteilen. Wir fordern daher,
dass den Migranten gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt die Möglichkeit
gegeben wird, mit ihren Lieben per Telefon oder Internet Kontakt aufzunehmen.
– Ein weit verzweigtes System
der 2. Aufnahme zu organisieren, das das Recht garantiert, in würdigen
Einrichtungen zu wohnen und ein besonderes Programm zum Schutz und zur Aufnahme
von Frauen, Minderjährigen und Familien vorzubereiten. Wie oben gesagt, haben
viele der neu angekommenen Migranten das Recht, internationalen Schutz zu
beantragen, aber sie erhalten diesbezüglich keine Informationen. Dies ist nur
die erste Verletzung dieses fundamentalen Rechtes; denn wem es gelingt diesen
Antrag zu stellen, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in das CARA von Mineo verlegt,
eine Einrichtung, die extrem überbelegt ist (5000 anwesende Migranten in
Relation zu 2000 vorhandenen Plätzen), wo die Lebensbedingungen extrem kritisch
sind (wie es die Proteste und die Selbstmordversuche und die Selbstverletzungen
von einigen „Gästen“ des CARA belegen) und wo die Wartezeit auf die Auswertung
des eigenen Antrags sehr lang ist (ca. 2 Jahre). Wir fordern daher, dass die
Asylantragsteller von ihrem Recht Gebrauch machen können, in angemessenen
Einrichtungen zu leben, die auf dem nationalen Territorium verteilt sind und
dass diese eingefügt werden in das SPRAR Programm; gleichzeitig fordern wir,
dass sie nicht gezwungen sind, Jahre zu warten, bis sie vor die zuständige
Kommission treten können (die Kommissionen müssen auf der Grundlage der Anzahl
der Asylanträge vervielfacht werden). Darüber hinaus, wie wir schon mehrmals
hervorgehoben haben, wohnen in PalaSpedini in absoluter Abwesenheit von
Privatsphäre und totaler Überfüllung Erwachsene zusammen mit Frauen und
Minderjährigen. Außer dass es im Allgemeinen Allen einen würdigen Aufenthalt
verwehrt, verletzt dieser Zustand offensichtlich das Recht der Frauen, Kinder
und unbegleiteten Minderjährigen angesichts ihrer größeren Verletzlichkeit Räume
und Dienste spontan zu nutzen. Wir fordern daher, dass diesen Menschen eine
besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und dass sie sofort, bald nach ihrer
Ankunft in Catania, in einer geschützten Einrichtung unterkommen.
-Den antirassistischen
Vereinen und einzelnen solidarischen Bürgern den Zugang zu den Orten zu
erlauben, an denen die Migranten untergebracht sind. Seit Jahren ist die Arbeit
lokaler Einrichtungen und einzelner Bürger, die den Migranten Unterstützung anbieten
von großer Wichtigkeit; sie bieten den Migranten unmittelbar in vielfältiger
Form Unterstützung an (Versorgung mit Schuhen, Kleidung und Medikamenten,
Information über den Asylantrag und andere nützliche Informationen etc.); sie
beobachten die Situation und machen festgestellte kritische Punkte und die
Verletzung nationaler und internationaler Normen in Sachen Menschenrechte öffentlich.
Trotz dieser konstanten und ehrenamtlichen Arbeit haben die Ordnungskräfte
unter bestimmten Umständen diese Freiwilligen (inklusive Ärzten und Mediatoren)
daran gehindert, in die Einrichtungen zu gehen und den Migranten die Hilfe zu
bringen, die von ihnen selbst gefordert wird und die ihnen von anderer Seite
oft genug verwehrt wird; weil Mediatoren fehlen, medizinische Unterstützung,
Informationen, die von den Institutionen und Unternehmen, die dazu vorbereitet
sind, garantiert werden sollten. Wir stecken also in einer paradoxen Situation,
in der die akkreditierten Institutionen und Betreiber fast gänzlich abwesend
sind, während demjenigen, der die Migranten mit konkreter und konstanter
Unterstützung versorgt, in bestimmten Fällen jeder Kontakt und jede Interaktion
mit den Migranten verwehrt wird. Wir fordern daher, dass die Präfektur und die
anderen beteiligten Betreiber den örtlichen Freiwilligen, seien es Mitglieder
der Vereine oder einfache Bürger, erlauben, in die Einrichtungen, in denen
Migranten beherbergt werden, hineinzugehen und ihnen die notwendige
Unterstützung zu geben, auch in Anbetracht der spärlichen Beteiligung der
akkreditierten Betreiber, Caritas und St. Egidius.
Die oben aufgestellten
Forderungen sind das Ergebnis einer langen Reihe von Informationen und
Zeugenaussagen, gesammelt in mehreren Jahren der direkten Unterstützung der
Migranten. Sie stellen, in einer eher spezifischen Art, einen Bezug her zur
Situation des PalaSpedini, wo im Verlauf der letzten Monate hunderte von
Migranten aus verschiedenen Anlandungen in extremer Vernachlässigung
untergebracht sind. Diese Kritikpunkte sind nicht nur von all jenen, die sich
als Freiwillige in das PalaSpedini begeben haben, erhoben worden sondern auch
von internationalen Organisationen, die diese Einrichtung besucht haben.
Weil
wir dringend eine gemeinsame Plattform für sofortige Forderungen brauchen, appellieren
wir an das antirassistische und antimilitaristische Vereinswesen, das sich seit
Jahren dafür eingesetzt hat, Migranten willkommen zu heißen und die ethnischen
Gefängnisse und militärischen Basen von Muos bis Niscemi zu schließen, sich zu
folgenden Vorschlägen zu äußern und sich dafür einzusetzen, eine neue Zeit des
Kampfes für die Bürgerrechte der Migrantinnen und Migranten einzuläuten:
-Angesichts eines
massenhaften Zustroms an Flüchtlingen (unter ihnen viele Syrer, Eritreer und
Palästinenser) muss die Regierung auf der Grundlage von Art. 20 des T.U. (Testo
unico; Gesetzestext) über Immigration eine Verordnung erlassen und allen auf
der Grundlage der Herkunft eine einstweilige Aufenthaltserlaubnis geben und
entsprechende Reisedokumente ausstellen, ohne eine Prozedur in der
Territorialkommission zur Anerkennung des Status vorzusehen, eine Prozedur, die
heute normalerweise eineinhalb Jahre dauert. Für diejenigen hingegen, die
Zugang haben zur Prozedur zum Ersuchen von internationalem Schutz, muss sofort
die Anzahl der zuständigen Territorialkommissionen erhöht werden, um die
Asylanträge zu prüfen, wie es schon vergangenes Jahr angekündigt wurde, wie es
aber bis heute nicht an allen Standorten der Kommissionen geschehen ist.
-Auf europäischer Ebene ist
es dringend, dass die italienische Regierung folgendes durchsetzt: eine
sofortige Aussetzung von Dublin III; die Öffnung von geschützten und legalen
Eintrittskanälen für die, die im Transitland wie in Ägypten und Libyen fest
sitzen; die Proklamation des „außergewöhnlichen Zustroms von Flüchtlingen“ auf
der Grundlage der Direktive 2001/55/CE und schließlich die Ausstattung aller
Flüchtlinge aus Libyen mit einer Aufenthaltserlaubnis für zeitweiligen Schutz
sowie einem in ganz Europa gültigem Reisedokument.
Antirassistisches Netzwerk Catania, Basiskomitee
NoMuos/No Sigonella, LILA, La Città Felice, Cobas Scuola Ct, Borderline
Sicilia, Ass. A, Sayed-Me.
Für die Zustimmung: alfteresa@libero.it
Aus dem Italienischen von
Rainer Grüber