ASGI*: Wir sagen „Nein“ zu einem standardisierten Widerspruchsformular für Asylsuchende

Asgi.it – Bezüglich des Projektes “E-Migrantes” des Gerichtes und des Berufungsgerichtes Catania, das während einer Tagung, die am 21. November im Gericht vom Catania stattfand, vorgestellt wurde, hat ASGI* den betroffenen Institutionen einen Brief geschrieben, um auf verschiedene kritische Punkte hinzuweisen.

Der Verein begrüßt zwar den guten Willen und die Aufmerksamkeit, die der Verbesserung der Verwaltung von Widerspruchsklagen gegen den Entscheid der territorialen Kommissionen, die noch bei dem Gericht und dem Berufungsgericht Catania ausstehen, und der Verkürzung der Definitionszeiten von Rechtsmittelverfahren gewidmet wird. Jedoch äußert sich der Verein kritisch zum Aufbau des Verbesserungsprojekts und weist auf die folgenden Aspekte hin, die noch ungelöste Probleme beinhalten. Dazu zählt beispielsweise die unnötig lange Zeit, die zur Beendigung des Rechtsstreits vorgesehen wird, entgegen den geltenden Vorschriften des Asylschutzes.

Personalmangel am Gericht
Schon in einem Vermerk, der von mehr als 30 Jurist*innen aus Catania unterschrieben und im November 2015 dem Justizministerium, dem Präsidenten des Gerichts und der Rechtsanwältekammer zugestellt wurde, hatte ASGI* die Gründe des gewaltigen Rückstandes der ausstehenden Rechtsstreite (mehr als 6.000) genannt.

Die Gründung des ehemaligen Cara* in Mineo im Jahre 2011, dem größten europäischen Aufnahmezentrum für Asylsuchende mit einer Kapazität von bis zu 4.000 Migrant*innen, hat die Funktionsfähigkeit des Gerichts und der anderen Institutionen in Catania (Polizeipräsidium und Ordnungsamt) sehr eingeschränkt. Die Personaldecke der jeweiligen Institutionen wurde nicht angepasst, auch nicht die des Gerichts, dessen Verwaltung und Staatsanwaltschaft.

Hinzu kommt die sehr hohe Quote an Rechtsstreiten, die sich aus der hohen Anzahl an negativen Bescheiden seitens der Territorialen Kommissionen in Catania und Syrakus ergeben, die weitaus höher als der nationale Durchschnitt liegen. Bis November 2016 hatte die Kommission in Catania 1.633 von insgesamt 2.179 Asylanträgen abgelehnt, während die Kommission in Syrakus 1.132 Anträge abgelehnt hatte von den 1.441, die gestellt worden waren.

Einerseits ist zu vermerken, dass die Verwaltung endlich dazu kommt, über den Sachstand der Berufungsklagen zu informieren, was über Jahre hinweg nicht erfolgt ist, was wiederkehrende Aufschiebungen der Verhandlungstermine und Verlängerungen der Prozessdauer zur Folge hatte. Andererseits wurden immer noch nicht IT-gestützte Lösungen gefunden, um die Verfahren zu beschleunigen. Unter anderen werden in dem Brief folgende kritische Punkte genannt:

  • ehrenamtliche Richter, die mit den Verfahren betraut wurden, die zum 17. August 2017 noch ausstehend waren, haben keinen Zugang zur elektronischen Datenbank;
  • der Informationsaustausch mit der Generalstaatsanwaltschaft bezüglich der unentgeltlichen Verfahrenshilfe erfolgt nicht auf elektronischem Weg und es fehlt an Personal, das für diese Verfahren fest angestellt ist;
  • der bereits mehrfach beantragten Erweiterung des Stellenplans in der Verwaltung wurde immer noch nicht stattgegeben, ganz im Gegenteil ist es zu einer Reduzierung des Personals aufgrund von Pensionierungen und Versetzungen gekommen.

Ein einziger Staatsanwalt für 3.500 Akten zuständig
Ab dem 18. Januar 2016 ist beim Gericht Catania ein einziger Staatsanwalt zeitweise für 3.500 Fälle zuständig, die davor von mehreren Staatsanwält*innen bearbeitet wurden und deren Resignation die Aufschiebung schon festgesetzter Verhandlungstermine verursacht hat.

ASGI merkt in dem Brief an, dass es für einen einzigen Menschen unmöglich ist, den gewaltigen Rückstand aufzuholen, weswegen die Verhandlungstermine weiterhin verschoben werden. In der Tat vergehen seit dem Zeitpunkt des Antrags auf Widerspruch durchschnittlich zwei bis drei Jahre, teilweise sogar bis zu vier Jahre bis zur endgültigen Definition des Verfahrens.

Die Situation ist offensichtlich nicht tragbar und steht im klaren Gegensatz zu der Dringlichkeit, die die Rechtsvorschriften diesen Verfahren einräumen, und zu den neuen Vorschriften, die am 17. August 2017 in Kraft getreten sind (das sogenannte „Minniti“ Dekret) und eine maximale Wartezeit von vier Monaten vorsehen.

Eine solche unzulässige Ausdehnung der Wartezeiten, um zu einer Entscheidung im Rechtsstreit zu kommen, verlangsamt wiederum die Zeit, die das Polizeipräsidium benötigt, um die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen beziehungsweise zu erneuern. Sie erschwert außerdem die Aufnahme der Asylsuchenden in die SPRAR*-Projekte und in die außerordentlichen Aufnahmezentren und beschneidet auch das Recht auf Verteidigung, wenn man die Schwierigkeit für den Verteidiger bedenkt, den Kontakt mit den Mandanten aufrechtzuerhalten, die zwangsläufig in andere Städte oder Orte ziehen, wenn die Erste Aufnahme beendet ist.

Ein „Einheitsformular“ für alle Asylsuchenden, die Widerspruch einlegen wollen, ist nicht akzeptabel
Die den Rechtsanwält*innen vorgeschlagene Lösung eines Widerspruchsformulars, das von den Staatsanwält*innen schon vorgefertigt ist, erscheint nicht nur unwirksam, sondern komplett inakzeptabel. Sie stellt einen Angriff auf das Verteidigungsrecht der Asylsuchenden dar und widerspricht der europaweit geltenden Regelung, die eine individuelle Einschätzung des einzelnen Falls unter Rücksichtnahme aller subjektiven und objektiven Fakten vorsieht. Eine derartige Untersuchung steht im Gegensatz zu einer Pauschalisierung des Sachverhalts, insbesondere bei besonders Schutzbedürftigen, und setzt eine komplette und lückenlose Darstellung seitens des*der Asylsuchenden und dessen Geschichte voraus, sowie die Berücksichtigung des Kontexts im jeweiligen Ursprungsland.

„Das Recht auf Verteidigung wird durch die einseitige Auferlegung eines vorgefertigten Widerspruchsformulars unter einer vorformulierten Angabe von Gründen, auf denen der Widerspruch basiert, verletzt. Die international und national geltenden Regelungen sehen vor, dass die Untersuchung des Antrages auf internationalen Schutz für jede*n einzelne*n Asylsuchende*n individuell und unter Berücksichtigung aller persönlichen Angaben des*der Asylsuchenden und der Informationen bezüglich des Heimatlandes erfolgen soll. Der Anspruch, die Prozesszeiten zu verkürzen, darf sich nicht als Nachteil für das Verteidigungsrecht und die Notwendigkeit, die individuelle Lage jedes einzelnen Asylsuchenden adäquat zu untersuchen, erweisen“, so steht es in dem Brief geschrieben.

Ferner fehlen im Projekt Lösungen, um die vom Gesetz anerkannten Rechte der Asylsuchenden zu gewährleisten, darunter die offizielle Auflistung und Ernennung von Übersetzer*innen, die für die Anhörungen der Asylsuchenden und die Übersetzung der Unterlagen unabdingbar sind. Beim Gericht und Berufungsgericht Catania wurden solche Schritte noch nicht unternommen.

Diskussionsbedarf und angepasster Personalbestand in den Büros
Der Brief endet mit einigen Vorschlägen, die in der Tat die Laufzeit der Rechtsstreite reduzieren und deren Abwicklung optimieren können.

Zum Einen erscheint es notwendig, dass der Personalbestand in der Verwaltung und die Anzahl der Staatsanwält*innen erhöht werden. Zum Anderen hält die ASGI die Gründung eines Runden Tischs für erstrebenswert. Daran könnten die involvierten Staatsanwält*innen zusammen mit den Rechtsanwält*innen und den Organisationen, die sich mit Immigrationsrecht beschäftigen, teilnehmen und die Gelegenheit nutzen, noch vorhandene kritische Punkte zu diskutieren und die Verbesserung der gesamten Abwicklung der Rechtsstreite anzugehen, auch hinsichtlich der Rechte und deren Gewährleistung für die Asylsuchenden, und der Urteile der Rechtsmittelverfahren, die die Ablehnungsverfahren der Territorialen Kommission betreffen.

 

ASGI* – Associazione Studi Giuridici sull’Immigrazione – Vereinigung der Juristischen Wissenschaftler*innen, die sich mit Immigration beschäftigen

CARA* – Centro di accoglienza per richiedenti asilo – Aufnahmezentrum für Asylsuchende

SPRAR* – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo – Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge

 

Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt