„Als Menschen gehen sie weg, als Schatten ihrer selbst kommen sie an.“ Schiffsbrüche und Rückführungen auf dem Meer. Italien verschließt seine Tore, auch vor denen, denen die Flucht gelingt
Am 12. Juni kam in Catania eine schwedisches Schiff von Frontex mit 356 Migrant*innen und 8 Leichen an Bord an. Die Überlebenden erzählen von Dutzenden Vermissten und vom Bersten eines überfüllten Schlauchbootes, auf dem Menschen äußerst zusammengedrängt waren. Nur wenige Tage später berichtet eine Gruppe sudanesischer Geflüchteter von einem nach zweitägiger Fahrt auseinandergebrochenen Boot, von dem sich anscheinend nur ein Dutzend Personen retten konnten. Andere Geflüchtete geben Augenzeugenberichte von syrischen Frauen und Kindern wieder, die sie in Libyen getroffen hatten: sie waren gerade von der lokalen Küstenwache wieder an den Ausgangspunkt „zurückgebracht“ worden, erzählten sie, als sie weitere kleine Holzboote versinken sahen.
Im Laufe der letzten Woche sind tote Frauen, Männer, Kinder und Neugeborene angekommen, die alle aufgrund der kriminellen Politik der Festung Europa ihr Leben verloren haben. Die eigenen ökonomischen Interessen zu schützen, jeden legalen Zugang zu verhindern und die Grenzen zu verstärken bedeutet, Tausende Menschen zu Hunger, Gewalt und Tod zu verurteilen. Gegen die Migrant*innen tobt seit Jahren ein Krieg, umso erbarmungsloser und grausamer als er vom institutionellen Narrativ verschleiert wird, der denjenigen, die täglich mit dem Tod zu tun haben, immer heuchlerischer und manipulativer vorkommt.
Behinderung der Flucht, Begünstigung anderer Geschäfte
„In Sabrata kennen alle den Schlepper, der die Abfahrten leitet und sie wissen, dass er der Polizei Schmiergeld bezahlt, damit seine Boote abfahren können. Oft bezahlt er, um freie Bahn für zehn Schlauchboote zu bekommen, aber dann lässt er 5, 7 oder 10 mehr abfahren, die dann aufgegriffen/abgefangen und zurückgeschickt werden. So fängt dann alles wieder von vorne an: Gefängnis, Sklavenarbeit, Nachfrage nach Geld bei den Eltern und Bezahlung einer neuen Flucht.“ O. ist vor zwei Monaten in Italien angekommen und hat die Überfahrt über das Meer dreimal versucht. In Libyen war er sechs Monate und er sagt uns, dass „eine Sekunde genügt, um sich aus einem Menschen in Kanonenfutter zu verwandeln: es reicht eine Handbewegung, ein Wort oder eine Unüberlegtheit und du hast eine Kugel im Körper und hörst auf zu atmen.“ O. fügt hinzu, dass er von Hunderte solcher Szenen erzählen könnte, in denen „Geld floss, die Libyer*innen bezahlten die Polizei, bestachen Leute, die mit der Küstenwache zusammenarbeiteten und so versuchte jeder, sein eigenes Geschäft zu machen“, immer und in jedem Fall auf Kosten derjenigen, die keine andere Wahl hatten als wegzugehen.
Die libysche Küstenwache, aber auch andere Frachter und Boote bringen die Migrant*innen zurück in die Lager, aus denen sie gerade geflohen waren, und die einzige Möglichkeit ist die, die Flucht von neuem zu versuchen, während sich Gerüchte um Abkommen immer mehr verdichten, um Geflüchtete systematisch in den Niger und in andere benachbarte Länder zurückzubringen.
Die Abschiebemanöver nähren neue Geschäfte und machen die Überlebensbedingungen in Libyen immer unhaltbarer, auch wenn es schwer ist, sich schlechtere Bedingungen als die bestehenden auszudenken. Zeichen von Gewalt und Folter sind in die Körper gebrannt und sind in den Augenzeugenberichten der Ankommenden allgegenwärtig. Oft sind es gerade die Jüngsten, die am schnellsten erzählen.
Italien, ist das wirklich ein Land, das die Menschenrechte respektiert?
Aber in Libyen ist das Leiden nicht zu Ende. Hunderte hilfsbedürftige Menschen kommen in den Häfen von Augusta und Catania an und sind gezwungen, tage- und nächtelang an Bord zu verharren, bevor sie an Land gehen können. Manche fassen sogar den Entschluss, sich ins Meer zu stürzen, um auf den eigenen Zustand der Erschöpfung aufmerksam zu machen. So geschehen im Hafen von Pozzallo am vergangenen 25. Juni. Die Ärzte*innen und Psycholog*innen der NGOs melden immer deutlichere Spuren des Missbrauchs schon bei der Ankunft, aber oft gibt es nicht die nötige Zeit und den nötigen Raum, um einen angemessenen Schutz zu garantieren. Es handelt sich mehr um ein „Polizei-“ als um ein „Aufnahme“system, das unter den an Land Gehenden nach „vermeintlichen Schleppern“ sucht, um sie der öffentlichen Meinung zum Fraß vorzuwerfen.
Auch während der letzten zahlreichen Anlandungen haben wir Ermittlungsaktionen miterlebt, die vor Ort am Kai oft mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit durchgeführt wurden, was die Befürchtung nahelegt, dass sie schon auf dem Meer begonnen haben. Manchmal geschieht die Identifizierung möglicher Zeug*innen und angeblicher Schlepper wirklich noch schneller als gewöhnlich, wie wir bei der Ankunft der Migrant*innen, die am 20. Juni vom Schiff Phoenix in Pozzallo an Land gingen, feststellen konnten. Die Rechtmäßigkeit solcher Praktiken muss angezweifelt werden, aber der Wille, die Zeug*innen weiterhin zu verfolgen und nicht die Schuldigen festzunehmen wird sehr deutlich.
Nordafrikanische Bürger*innen, vor allem Marokkaner*innen, werden zu Hunderten zurückgewiesen, mit Verfügungen, die oft nur mündlich in ihre Muttersprache übersetzt werden. In diesen Wochen haben wir mit einigen von ihnen in der Nähe des Bahnhofs von Catania gesprochen. Sie hielten einen vverzögerten Abschiebebescheid in Händen, der schriftlich nur in französischer Übersetzung vorliegt, obwohl die meisten ausschließlich arabisch sprechen. Unter den unterschiedlichen Gruppen zurückgewiesener marokkanischer Bürger*innen melden wir auch die Anwesenheit von zwei besonders schutzbedürftigen Frauen, die auf der Straße nach Palermo ausgesetzt und völlig sich selbst überlassen wurden. Die einzige Unterstützung, die ihnen zuteil wurde, kommt von einigen Ehrenamtlichen, die mit Nachdruck versuchen, jedem Einzelnen Schutz und menschliche Solidarität zu garantieren. In diesem System werden den „Wirtschaftsflüchtlingen“ sogar die Grundrechte verweigert.
„Sie kommen in immer schlechteren Bedingungen an, sie schicken uns Geister, keine Personen. Beim letzten Mal kamen Dutzende Menschen mit Verbrennungen vom Hafen an, als ob wir ein Krankenhaus wären. Hier werden sie registriert und in Gruppen eingeteilt, dann beginnt das Durcheinander. In der Vergangenheit kam es vor, dass wirklich 1000 Personen auf einmal ankamen, ich weiß nicht, ob ich vermitteln kann, was das bedeutet“ P. ist ein Mitarbeiter des Aufnahmezentrums (CARA) von Mineo. Er erzählt uns von Geflüchteten mit schweren Brandwunden, die vor einem Monat direkt vom Hafen in Catania zum CARA gebracht wurden. „Der Hafen von Catania sticht durch Chaos und Zufälligkeit der Überführungen heraus“, fährt P. fort, „wenn keiner weiß, wohin die Leute geschickt werden sollen, fällt die Wahl immer auf Mineo.“ Auch die Überführungen in weiter entfernte Ziele scheinen nicht unter besseren Bedingungen stattzufinden.
Erst vor wenigen Tagen, am 27. Juni, wurde eine Gruppe Bengal*innen, die in Catania an Bord des Schiffes Fiorillo ankamen, in den HUB* von Bologna gebracht: Nach stundenlangem Warten bei der Ankunft im Hafen und einer kräftezehrenden Busfahrt die ganze Nacht hindurch traf auch sie die ganze Prekarität eines ewigen „Notfall“-Zustands, bei dem man in den Aufnahmezentren systematisch auf externe große Zelte zurückgreift, um der chronischen Überfüllung entgegenzuwirken. Die dortigen Akteure spielen sich die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten zu und es gelingt ihnen nicht, die Unangemessenheit eines Aufnahme-Systems, das den wirklichen Tatsachen nicht Rechnung trägt, anzuprangern.
Menschen, die unter Schock stehen, verletzt mit Messern und Feuerwaffen, Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch: das sind die Bedingungen der Migrant*innen, die in den letzten Tagen in allen sizilianischen Häfen ankamen und darüber hinaus. Als Antwort darauf erhebt die italienische Regierung Forderungen bei der europäischen Kommission und wirbt diverse Projekte an, an denen sie schon seit Monaten arbeitet. In der Tat ist offensichtlich, dass der Vorschlag, eine größere Kontrolle der Operationen der NGO-Schiffe vorzuschreiben, und die Vorstellung, einigen den Zugang zu italienischen Häfen zu verweigern, auf den Wunsch nach Befestigung, nach Militarisierung und nach Verlagerung der Grenzen nach außen in Libyen verweist. Dies geschieht nach dem Vorbild des Abkommens mit der Türkei vom März 2016, dessen dramatische und inhumane Konsequenzen für die Migrant*innen wir heute immer noch sehen können.
Heute blicken die Medien in ganz Europa auf das Treffen der europäischen Innenmister am kommenden Donnerstag und fragen sich, wie die nächsten Manöver der unterschiedlichen involvierten Akteure aussehen werden.
Vor zwei Tagen trafen 9 weitere Leichname im Hafen von Catania ein. Im südlichen und nördlichen Mittelmeer wird es weiterhin Tote und Geister eines Krieges geben, der von den Medien verschwiegen tobt und gegen den man sich immer heftiger wehren muss.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
*HUB: HUB – aus dem Englischen von „Sammelpunkt“, so sollen die neuen Verteilzentren für Asylsuchende heißen
Übersetzung aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib