Nach dreitägigem bürokratischem Stillstand werden jetzt 105 auf der Flucht gerettete Personen in einen sicheren Hafen in Italien gebracht
9.05.2018 – Die Aquarius, das von SOS MEDITERRANEE gemietete und in Partnerschaft mit Médecins sans Frontières (MSF – Ärzte ohne Grenzen) verwaltete Rettungsschiff, fährt den Hafen von Catania mit 105 Personen an, die am Sonntag von einem spanischen Schiff gerettet worden waren. Nach zwei langen Tagen bürokratischer Verzögerungen bekam das Schiff von der zuständigen Schifffahrtsbehörde die Genehmigung, die Menschen aufzunehmen und in der Folge auch einen sicheren Hafen anzulaufen.
Bürokratischer Stillstand
Am Sonntag wurden 105 Personen, darunter Frauen und Kinder, im Mittelmeer von der Astral gerettet, dem Schiff der NGO ProActiva Open Arms, das unter britischer Flagge unterwegs ist. Die Übernahme auf ein geeigneteres Boot wurde aufgrund der kritischen Bedingungen an Bord des Segelbootes (30 Meter) notwendig.
Das Zentrum für Koordinierung der Schifffahrtsrettung aus London (UKMRCC) kontaktierte die Aquarius am Montag in aller Frühe und lieferte die Koordinaten für einen Treffpunkt mit der Astral, um, falls notwendig, den 105 Personen beizustehen.
Die Aquarius äußerte ihre Bereitschaft die Personen an Bord zu nehmen, allerdings unter der Voraussetzung, vorher eine schriftliche Genehmigung von Seiten der zuständigen Schifffahrtsbehörde zu erhalten.
Es folgten lange Stunden diplomatischer Verhandlungen zwischen der italienischen und der britischen Behörde. Unterdessen verschlechterten sich die hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen der 105 Schiffbrüchigen an Bord der Astral.
Nach eintägigem Warten klärte die italienische Seenotleitstelle MRCC in Rom Montagnacht die Situation und genehmigte die Übernahme der Menschen an Bord der Aquarius. Dort nahmen sich dann die Rettungskräfte von SOS MEDITERRANEE und das Team von MSF der Menschen an.
Am Dienstagmorgen informierte die Aquarius die italienische Schifffahrtsbehörde – die die Übernahme einen Tag zuvor genehmigt hatte – über ihre Absicht, die SAR-Zone (Search and Rescue) aufgrund einer drohenden Wetterverschlechterung zu verlassen und verlangte folglich die Zuweisung eines sicheren Hafens („Place of Safety“), an dem man die 105 im Meer geretteten Personen an Land gehen lassen könnte. Der sichere Hafen wurde am späten Dienstagnachmittag zugewiesen.
Die Aquarius fährt jetzt in Richtung Hafen von Catania, wo sie am Donnerstagmorgen um 8.00 Uhr mit den 105 Schiffbrüchigen ankommt.
Die Abfangmaßnahmen der libyschen Küstenwache
Unter den Personen, die an Bord der Aquarius aufgenommen wurden, befinden sich acht Frauen und 34 Minderjährige, darunter sechs Kinder unter 13 Jahren. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern, darunter Bangladesch, Ägypten, Eritrea und Sudan. Die meisten sagen, dass sie aufgrund der unsicheren Situation im Land aus Libyen geflohen sind.
„Vergangenen Juli wollte ich fliehen, aber die Libyer haben uns auf dem Meer aufgegriffen und wieder an Land gebracht. Ich kam ein weiteres Mal ins Gefängnis, fünf Monate und eine Woche“, erzählte eine 21-jährige Nigerianerin einem Freiwilligen von SOS MEDITERRANEE. „Im Gefängnis gab es keine Toilette, wenig zu essen, keine Kleidung. Wir wurden misshandelt und geschlagen. Eines Tages kam jemand und hat dafür bezahlt, dass ich rauskonnte. Aber dann musste ich das Geld zurückgeben. Ich beschloss, erneut zu fliehen. Als wir am Samstag das sich nähernde Rettungsschiff sahen, waren wir in Panik, dass es wieder die Libyer sind.“
Am Sonntag war die Aquarius zugegen als ein Schlauchboot von der libyschen Küstenwache in internationalen Gewässern, 24 Meilen vor der libyschen Küste westlich von Tripolis, abgefangen wurde. Die freiwilligen Helfer*innen von SOS MEDITERRANEE konnten durch das Fernglas sehen, wie sich mehrere Personen ins Wasser stürzten. Trotz mehrmaliger Hilfsangebote unserer ausgebildeten Rettungsbesatzung forderte die libysche Küstenwache unser Schiff auf, sich von der in Gang befindlichen Operation zu entfernen.
„Die gegenwärtige Verwirrung bezüglich der Koordinierung der Rettungsaktionen im Mittelmeer ist die Konsequenz einer europäischen Politik, die die Verwaltung des Phänomens der Migration im Mittelmeer nach außen verlagert, wie es im Februar 2017 in der Erklärung von Malta verabschiedet wurde. Das Resultat sieht in unseren Augen so aus: ein Rückgang von Ankünften von Überlebenden in Italien, aber eine größere Zahl an Todesopfern, eine geringere Anzahl an Rettungsmaßnahmen, die von Rettungsschiffen humanitärer Organisationen durchgeführt werden, aber eine Erhöhung der Unsicherheit auf dem Meer aufgrund der wenig eindeutigen Verantwortungsübertragungen an die libyschen Behörden“, erklärte Valeria Calandra, Präsidentin von SOS MEDITERRANEE.
„In Anbetracht der schändlichen und inakzeptablen Behandlung der 105 Schiffbrüchigen durch die europäischen Behörden appelliert SOS MEDITERRANEE an diesem 9. Mai, dem Europatag, an die europäischen Verantwortlichen, die eigenen Richtlinien dringend zu überprüfen. Wir fordern sie auf, der Rettung und dem Schutz von Menschenleben auf dem Mittelmeer höchste Priorität einzuräumen, im Sinne der Prinzipien von Solidarität und Humanität, auf denen die Europäische Union aufgebaut ist“, schloss Calandra.
Übersetzung aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib