Das Leben der kürzlich volljährig Gewordenen im Osten Siziliens
Dem Großteil der komplexen Probleme der italienischen Immigrationspolitik liegt der diffus notstandsmäßige Ansatz zugrunde, mit der diese angegangen wird. Die Handhabe des Phänomens als Notfall ist mittlerweile zum Regelfall geworden. In Wirklichkeit sind wir mit keiner außergewöhnlichen Situation konfrontiert, die nach Notfallmaßnahmen verlangt. Es besteht vielmehr ein Dauerzustand, der als solcher angegangen werden sollte, ohne sich auf temporäre Maßnahmen zu beschränken, die auf lange Sicht keine Lösungen bringen.
Die Aufnahme von Geflüchteten ist ein Bereich, in dem der Notfall ein ständiges Element ist. Allen ist bewusst, dass die Umsetzung des italienischen Plans zur Verteilung von Asylsuchenden und Geflüchteten, der vom Innenministerium und dem Kommunenverband (ANCI) umgesetzt wird, äußerst langsam geschieht. Genauso deutlich ist, dass die Notfalllogik aufgegeben und die Koordination zwischen den Institutionen verstärkt, sowie das Modell der auf die Regionen verteilte Aufnahme umgesetzt werden muss, um einem stabileren Aufnahmesystem näher zu kommen. Darüber hinaus versteht sich unter der außerordentlichen Aufnahme keine kurzfristige Lösung: Die durchschnittlichen Aufenthaltszeiten in außerordentlichen Aufnahmezentren sind sehr lang. Die dort Aufgenommenen befinden sich in Einrichtungen, die sich durch Personalmangel und dem Mangel an einer grundlegenden Infrastruktur auszeichnen. Die Ursachen der Problematik mehren sich, aber wenn die Institutionen den Grundsatz der Verteilung der Aufnahme auf der gesamten Halbinsel und den Ausbau des SPRAR*-System nicht umsetzen, wird es immer schwieriger, die Logik des Ausnahmezustands zu umgehen.
Betrachtet man die Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Personen wie den unbegleiteten Minderjährigen, gewinnt die bereits kritische Lage immer mehr an Gewicht. Trotz der durch die Lex Zampa und des Legislativdekrets vom 22.12.2018 Nr. 220 auferlegten Änderungen, können wir weiterhin einen willkürlichen und rechtswidrigen Umgang bezeugen. Die allermeisten unbegleiteten Minderjährigen, welche sich in großer Anzahl in Sizilien befinden, verbleiben weit länger als die zulässigen 30 Tage in den Erstaufnahmezentren. Die Wartezeiten für die Umverlegung sind extrem lang. Dies führt zu Frustration und Misstrauen der jungen Menschen gegenüber dem gewollten und erhofften Versuch sich zu integrieren.
Der Eintritt der Volljährigkeit
Die Lage verbessert sich auch nicht, wenn die Volljährigkeit erreicht ist. Der überwiegende Anteil von unbegleiteten Minderjährigen in Italien ist zwischen 16 und 17 Jahren, also ohnehin an der Schwelle zur Volljährigkeit. Damit geht der Verlust von besonderen Schutzpflichten des Staates einher. Mit der Volljährigkeit gelten die jungen Menschen als Erwachsene und diese sehr wichtige Phase der Transition, mit der sie sich konfrontiert sehen, wird nicht im Geringsten geschützt, sondern paradoxerweise noch erschwert. Wie jedes Jahr wurde zu Beginn des Jahres 2018 ein Anstieg der Anzahl an Jugendlichen festgestellt, die die Volljährigkeit erreicht haben. Dies liegt daran, dass viele unbegleitete Minderjährige nur das Jahr ihrer Geburt, nicht aber den genauen Tag kennen, sodass ihnen willkürlich der 1. Januar als Geburtstag zugeteilt wird. Das bedeutet, dass sie mit Beginn des Jahres 2018 automatisch volljährig wurden. Gerade im Januar war zu konstatieren, dass vermehrt Anträge auf Umverlegung in SPRAR-Zentren oder auf Verlängerung der Aufnahme in Zentren für Minderjährige eingingen, mit dem Ergebnis, dass die Behörden mit der Verwaltung der Verlegungen überfordert waren.
Aufgrund der hohen Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen in Sizilien und den geringen verfügbaren Plätzen in den SPRAR-Zentren, hat das Ministerium am 4. August 2017 ein Rundschreiben erlassen. Darin werden die Prioritäten für die Annahme in Wohnheimen geregelt. An erster Stelle stehen diejenigen, denen Asyl gewährt wurde. Danach werden den subsidiären Schutzberechtigten Plätze zugewiesen, und falls noch freie Plätze verfügbar sind, sollen diese an Asylsuchende vermittelt werden. Was passiert dann mit denen, die keinen Platz erhalten? Mit dem Erreichen der Altersgrenze sinkt also plötzlich und ohne Ankündigung die Relevanz des bis zum vorherigen Tag zu wahrenden Wohl des Kindes?
In den Provinzen Ostsiziliens
Die Behandlung von Geflüchteten ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich hinsichtlich der Entscheidungen und Ausführungsmodalitäten. Im Osten des Landes, etwa in Catania und Caltanissetta, werden die jungen Menschen bei Eintritt der Volljährigkeit von den Aufnahmezentren für unbegleitete Minderjährige in reguläre Aufnahmezentren verlegt, beispielsweise in die von Mineo oder Pian del Lago. Diese Zentren beherbergen bereits sehr viele Menschen und stehen wegen schwerer und wiederholter Vernachlässigung und Mangel an Schutz in der Kritik. Insbesondere zu Mineo sind bereits zahllose und schwerwiegende Fehler der Geschäftsleitung bekannt. Dass diese Orte, die schon für erwachsene Menschen nicht geeignet sind, es erst recht nicht für junge Erwachsene sind, dürfte klar sein. In Catania ist anlässlich der Verlegung von A. (und vieler anderer gerade Volljährigen) in das Zentrum von Mineo eine Diskussion entfacht, die am 27. Januar verschiedene Akteur*innen dazu veranlasst hat, bei einem Treffen vereint nach Lösungen zu suchen, woraufhin das „Forum Territoriale Siciliano“ gegründet wurde. Gründungsmitglieder waren verschiedene NGOs, Vereine, Aufnahmezentren, Verantwortliche von Bildungseinrichtungen, Kirchengemeinschaften und Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft. Von den eingeladenen Institutionen ist nur ein Vertreter des Gerichts für Jugendstrafrecht erschienen. Die Geschichte von A. ist eine besondere, weil in ihr der Konflikt zwischen zwei Institutionen zum Tragen kommt. Der Richter am Jugendgericht hatte verfügt, dass A. bis zum Erreichen von 21 Jahren in dem Zentrum für unbegleitete Minderjährige bleiben durfte. Hingegen hatte das Polizeipräsidium schon die Verlegung nach Mineo eingeleitet, weil es sich und nicht das Gericht als zuständig ansah. Innerhalb von wenigen Tagen hat A. Nach Mineo umziehen und somit die begonnene Integration beenden müssen. Diese umfasste den Schulbesuch, das Training in einem Fußballverein und die Teilnahme an einem Theaterprojekt. Er hat somit auch Vertrauenspersonen zurückgelassen, die er in seiner gewohnten Umgebung geschaffen hat: seine Freunde und andere Menschen, mit denen er ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Er wurde damit von seinem Lebensmittelpunkt entfernt. Nach der Logik der Stadtverwaltung in Catania sollen zuvörderst besonders gut Integrierte verlegt werden, weil diese am längsten in dem Zentrum sind. „Die jungen Menschen behandelt man wie Pakete auf der Post“, sagt O. während des Forums, an dem er als Gast seiner Einrichtung teilnimmt. „Wir sind hierher gekommen, um hier aufzuwachsen. Wir sind nicht nur unserer selbst willen hier. Wir sind hier, um an diesem Land teilzuhaben und etwas zurückzugeben. Italien ist ein Markt geworden, wir sind die Produkte und die Aufnahmezentren sind die Spediteure.“ Glücklicherweise gibt es Initiativen wie die von Refugees Welcome. Sie vermittelt junge und volljährige Geflüchtete an italienische Familien auf Zeit. Leider sind es erst sehr wenige Familien, die zur Aufnahme bereit sind, obwohl sie mit ihrer Hilfe der Entwurzelung entgegenhalten könnten, und zu einer schnelleren Integration und erhofften Unabhängigkeit beitragen.
Ein ähnlicher Fall hat sich auch in Caltanisetta abgespielt. Hier erklärte ein Mitarbeiter eines Aufnahmezentrums, dass im Vergleich zu anderen Regionen Siziliens die Asylanträge der Minderjährigen, die in den verschiedenen Einrichtungen leben, niedriger sind. Die meisten Minderjährigen machen folgenden Ablauf durch: Sie beantragen eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund von Minderjährigkeit und versuchen diese dann umzuwandeln in einen Aufenthaltstitel wegen Studiums oder Arbeit. In manchen Fällen geht der Antrag allerdings nach Eintritt der Volljährigkeit ein. Die meisten, die gerade das 18. Lebensjahr vollendet haben und Asyl erhalten, werden dann in SPRAR-Zentren untergebracht. Manche hingegen kommen in das Aufnahmezentrum Pian del Lago: die jungen Menschen werden von ihren Heimateinrichtungen oder sogar aus der Schule nur sehr kurzfristig abgeholt, manchmal sogar ohne Vorwarnung. Exemplarisch ist dabei der Fall T: ein junger Mann aus Ägypten, der Asyl beantragte. Sobald er 18 wurde, kam er nach Pian del Lago, von wo aus er nach wenigen Wochen die Flucht ergriff, weil er dort– erschrocken und frustriert – für sich keine Perspektive oder Zukunftsmöglichkeiten sah. Nun lebt er auf der Straße in Caltanissetta, ohne Dach über dem Kopf, in der Hoffnung auf einen Aufenthaltstitel und als leichte Beute für die Ausbeutung.
Syrakus und Enna ähneln sich wiederum in der Praxis, kürzlich volljährig Gewordene in außerordentliche Aufnahmezentren zu verlegen, da die beiden Provinzen keine regulären Aufnahmeeinrichtungen haben. In Syrakus wurden von den Erst- und Zweitaufnahmeeinrichtigungen für Minderjährige vermehrt Anfragen an die zentrale Verteilungsbehörde geschickt, um deren Verlegung in SPRAR-Zentren zu erwirken. Allerdings konnte ihren Anträgen nicht stattgegeben werden aufgrund fehlender Plätze, und so standen die folgenden zwei Möglichkeiten zur Verfügung: diejenigen mit einem Asyl- oder subsidiären Schutzbescheid können in SPRAR außerhalb der Provinz verlegt werden, welche noch Kapazitäten haben – wodurch die Jugendlichen ihre Projekte und den Integrationsprozess unterbrechen. Die Asylsuchenden jedoch werden auf die verschiedenen außerordentlichen Ausnahmezentren verteilt (Rosolini, Città Giardino, etc.), während die Jugendlichen mit einer Studienaufenthaltsgenehmigung nur zwei Möglichkeiten haben: den Antrag auf Verlängerung der Genehmigung bis sie 21 Jahre alt sind, oder das Leben auf der Straße.
Auch in Enna erfolgen die Verlegungen in SPRAR nicht unmittelbar: trotz der Meldungen von Seiten der Zentren für Minderjährige wird die Mehrheit der kürzlich volljährig Gewordenen in außerordentliche Aufnahmezentren versetzt, nur Wenige haben das Glück, einen SPRAR-Platz zu erhalten. Leider sind nicht nur die geringen Kapazitäten der SPRAR ein Problem, sondern auch eine mangelhafte Koordination der zentralen Verteilungsbehörde, aufgrund derer viele Plätze unbesetzt bleiben. Als Reaktion auf diese Fehlkommunikation suchen viele Zentren für Minderjährige auf eigene Faust freie SPRAR-Plätze für ihre Bewohner*innen und teilen sie anschließend der Behörde mit.
In der Provinz von Messina werden die kürzlich volljährig Gewordenen, denen Asyl oder subsidiärer Schutz gewährt wurde, in SPRAR verlegt. Die Asylsuchenden und diejenigen, die Widerspruch gegen ihren Bescheid eingelegt haben, landen je nach Fall oder Schicksal in den SPRAR oder in den außerordentlichen Aufnahmezentren. Dort müssen sie einige Schritte zurück in ihrem Integrations- und Bildungsprozess machen. Sie kommen in der Mehrheit der Fälle von Zentren für Minderjährige, wo sie viel mehr Zeit verbracht haben als die eigentlich von der Lex Zampa vorgesehenen 30 Tage. Was die Minderjährigen betrifft, die eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund minderjährigen Alters hatten und diese in eine Studien- oder Arbeitsgenehmigung umgewandelt haben, so werden sie oft dazu angehalten, den Aufenthalt in den Erst- oder Zweitaufnahmezentren zu verlängern. Diese Bitte erwächst aus der Schwierigkeit, Zugang zu anderen Zentren zu bekommen und der daraus resultierenden hohen Wahrscheinlichkeit, dass die Jugendlichen auf der Straße landen. Für die Zentren bedeutet dies eine noch größere Verantwortung und für den Herangewachsenen der Verlust vieler Rechte, die Minderjährige in entsprechenden Zentren genießen. Wenn die Kommune beispielsweise finanziell nicht mehr den Aufenthalt der*des Jugendlichen unterstützt, wird diese*r als einzige*r kein Taschengeld mehr erhalten, also eine tägliche Summe, die das Innenministerium nur für Minderjährige vorgesehen hat, und die bei Eintritt der Volljährigkeit ausgesetzt wird. In Messina ist ein runder Tisch gegründet worden, der monatlich tagt. Hier tauschen sich Sozialarbeiter*innen, Mentor*innen, die Leiter*innen der Einrichtungen und die Vertreter*innen des Landkreises aus, mit dem Ziel, die Ankunfts- und Aufenthaltsbedingungen der Minderjährigen und Heranwachsenden zu verbessern.
Auch in der Provinz von Ragusa werden die asylberechtigten und dann die subsidiär schutzberechtigten Minderjährigen in die SPRAR-Wohnheime zugelassen. Wer hingegen noch keinen Bescheid hat, landet im außerordentlichen Aufnahmezentrum. Uns wurden mehrere Fälle gemeldet, die noch mehr komplizierter sind aufgrund der speziellen Situation der Neu-Volljährigen. Die Heranwachsenden müssen oft mehrere Monate auf frei werdenden Plätze oder auf die Verlegung von einem in das andere Zentrum warten, und um nicht auf der Straße zu landen, bleiben ihnen nur karitative Einrichtungen übrig wie die der Caritas, die zeitweise Kost und Logis übernimmt. Von dort wurde uns berichtet, dass die Heranwachsenden wenige Tage nach Eintritt der Volljährigkeit einen Entscheidungsbescheid von der Territorialen Kommission erhielten und ihre jeweiligen Einrichtungen verlassen mussten. Nur in wenigen, begleiteten Fällen und mithilfe der Caritas gelang es, sie in nahegelegene SPRAR-Zentren verlegen zu lassen. Diese Art von Fürsorge kommt nur wenigen zuteil, die das Glück oder die Ausdauer hatten, Teil von gewissen Netzwerken zu werden, die versuchen die Lücken des Aufnahmesystems zu kompensieren.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass in diesem wichtigen Lebensabschnitt – der Zeit vor und nach dem Eintritt der Volljährigkeit – die jungen Menschen völlig vernachlässigt werden. Auch diejenigen, die mit viel Glück die Schul- oder Ausbildungslaufbahn aufgenommen haben und integriert werden, müssen womöglich alles, wofür sie sich angestrengt hatten, zurücklassen und sich auf eine frustrierende Lebensrealität einstellen. Sie werden in andere Provinzen oder Dörfer verlegt, die weit weg von urbanen Zentren sind, in außerordentliche und reguläre Aufnahmezentren und nur in manchen Fällen in SPRAR, und in denen sie die Beziehung zu Vertrauenspersonen nicht aufrecht erhalten können. Auch der Schulbesuch gestaltet sich schwieriger, die Wartezeit um eine neue Bildungseinrichtung besuchen zu können beträgt mehrere Monate. Integrationsprojekte, in die viel Zeit und Energie gesteckt wurde, werden abrupt abgebrochen, denn es fehlt an einem gemeinsamen Konzept. Diese Praktiken verursachen viel Misstrauen und Unmut bei den Betroffenen. So kommt es nicht selten vor, dass sie die Zentren ganz verlassen, selbst wenn sie noch über keinen Aufenthaltstitel verfügen. Der Weg führt sie in die Kriminalität und in den Menschenhandel. Sie werden zu billigen Arbeitskräften in der Landwirtschaft ohne Unterkunft. Als wir im Aufnahmezentrum in Mineo waren, trafen wir einen gerade volljährige gewordenen jungen Mann, der vor etwa zwei Wochen eine Einrichtung für Minderjährige in Catania verlassen hatte. Er erzählte uns, wie er sich nach der Verlegung fühlte: „ Mein Traum war es, die Mittelstufe zu schaffen. Jetzt ist mir alles weggenommen worden. Hier, im Aufnahmezentrum in Mineo, sind wir wieder in Afrika. In Italien habe ich bisher nur Zeit verloren.“
Sara Scudero
Viola Gastaldi
Borderline Sicilia
*SPRAR: Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis
Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Freialdenhoven