An der Südgrenze Europas noch ein Sommer des Ertrinkens und der verweigerten Menschenrechte
„Ich sehe Boote wie jenes dort, die an den Küsten zurückgelassen werden“ und er zeigt auf das letzte liegengelassene Boot nach einer sogenannten Geisteranlandung, „und ich denke, dass die Gelandeten Verwandte oder Freunde von mir sein könnten, die, wie wir alle, auf der Suche nach einem würdigen Leben sind. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, tut mir mein Herz weh.“
An der Küste bei Agrigento, Sommerferien, an einem späten Nachmittag Ende August. Ich setze mich neben Abdulay, er verkauft hier am Strand gegrillte Maiskolben. Ich bin ihm jeden Morgen auf dem Campingplatz begegnet, wo er seiner Arbeit nachgeht, schüchtern aber stolz. Am Abend sah ich ihn, den Blick auf ein Boot am Strand gerichtet, eines von vielen, mit denen Migrant*innen aus Tunesien hier landen. Von sich aus beginnt Abdulay mir von seinen Erfahrungen nach seiner Ankunft in Italien vor fünf Jahren zu erzählen.
Nach seiner Ankunft in Sizilien beginnt er in Rom auf dem Gemüsemarkt zu arbeiten, während er im Sommer in Agrigento mit seinem „Grillfahrrad“ unterwegs ist, das er sich in nur drei Stunden selbst gebaut hat: „Zuhause war ich Schweißer. Ich habe zwei Kinder von fünf und acht Jahren. Das zweite habe ich nur zwei Monate gesehen. Um meine Familie zu ernähren, bin ich in ein Boot gestiegen. Zum Glück bin ich dabei nicht umgekommen. Ich arbeite, um meine Familie zu ernähren wie alle Väter dieser Welt. In Rom arbeite ich zwölf Stunden am Tag und meine Ferien brauche ich, um auch im Sommer zu arbeiten, damit ich weiter Geld nach Hause schicken kann. Zu meiner Tätigkeit hier habe ich mich vom Beispiel der mexikanischen Straßenhändler*innen anregen lassen. In Mexiko sind gegrillte Maiskolben mit Salz und Zitrone nämlich ein Klassiker. Für die Metallteile habe ich 35 Euro ausgegeben und damit ein Fahrrad umgebaut. Und so fahre ich zwischen Eraclea und Punta Bianca, dem Ort meiner Ankunft in Italien, an der Küste von Agrigento hin und her. Heute ist alles schwieriger und viele hinterlassen ihre Kinder als Waisen.“
Wir bleiben schweigend sitzen und warten auf den Sonnenuntergang, den Blick weiterhin auf das Boot gerichtet, das vierzig Personen in Sicherheit gebracht hat. Zum Abschied wünsche ich Abdulay alles Gute. Er zeigt mir noch Fotos seiner Kinder. Mit Stolz macht er mich darauf aufmerksam, dass sie seine Augen hätten. Er bittet mich, falls ich an irgendeinen Gott glaube, für die Kinder zu beten, denn oft sei er am Abend so erschöpft, dass er dazu nicht mehr in der Lage sei.
Krieg gegen die Nichtregierungsorganisationen
Auch in diesem für viele katastrophalen Sommer mussten wir die Abscheulichkeiten der italienischen und europäischen Politik bezeugen, die weiterhin für Tote und Ausbeutung verantwortlich sind. Die Zahlen sind unmissverständlich: seit Beginn dieses Jahres sind circa 54.000 Menschen nach Europa migriert – davon nur 5.000 nach Italien. Die politische Propaganda will uns glauben lassen, dass das Ziel der Migrant*innen Italien sei. Es sind aber weniger als 10% der Anlandungen in Italien, die durch eine Hilfsorganisation möglich gemacht wurden – weniger als 300 Personen – ein Zahl, die nur als lächerlich klein bezeichnet werden kann. Im Gegensatz dazu, wird von den autonomen und Geisteranlandungen nicht gesprochen – während die Migrant*innen, die von NGOs gerettet wurden, ins Kreuzfeuer der italienischen und europäischen Politspiele geraten.
Während der aktuellen Regierungskrise wurde den Migrant*innen auf der „Eleonore“ der NGO Lifeline und auf der „Mare Jonio“ der NGO Mediterrania Saving Humans das Betreten des italienischen Bodens durch einen Erlass der Minister der sich in Auflösung befindenden Regierung verweigert. Obwohl heute die Erlaubnis erteilt wurde, wird das Spiel mit dem Leben der Migrant*innen fortgeführt, werden weiterhin Frauen, Männer und Kinder dazu gebraucht, um schmutzige Propaganda zu schüren. Zur gleichen Zeit finden autonome Anlandungen statt, von denen niemand spricht: in der Nacht vom 28. auf den 29. August sind auf einem zweimotorigen kleinen Boot 78 Personen gelandet und heute waren es einige hundert Migrant*innen aus Tunesien – alle auf Lampedusa.
Der Kampf gegen die Hilfsorganisationen wird nicht deshalb geführt, weil sie Personen retten, sondern weil sie anklagen, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Situation im Mittelmeerraum richten wollen, wo täglich Tote zu beklagen sind, wie zuletzt geschehen am 27. August.
Als wenn das alles nicht genügen würde hat Italien beschlossen, den Nichtregierungsorganisationen ihre Aufklärungsflüge zu untersagen. Die eigentliche Absicht dahinter ist das Abschieben, Rückführen, das ungestrafte Ertrinkenlassen, ohne dass Menschen davon in Kenntnis gesetzt werden, und die Weiterführung der Propaganda. Eine grausame mörderische Politik Evangelium, Madonnen, Rosenkränze – von wegen, nur teuflische Politik, nur ein neuer Faschismus, zugeschnitten auf unsere Zeit. Trotzdem – ein Großteil der Gerichte befolgt weiterhin die Gesetze und respektiert die Grundsätze, die in unserer Verfassung und den internationalen Verträgen verankert sind. Die Ermittlungsrichterin von Agrigento hat den Antrag der Staatsanwaltschaft der vorsorglichen Beschlagnahme des Schiffes der Open Arms nicht bestätigt. Es wurde in der Folge eine Strafakte eröffnet wegen der Straftat der Ablehnung einer amtlicher Mandatsverordnung!
Und auf Lampedusa…
Die Qualität der Aufnahmeeinrichtungen und -praktiken für Migrant*innen wird stetig reduziert und dem Zufall der jeweiligen Ereignisse überlassen. Das offensichtlichste Beispiel dafür ist Lampedusa, wo die Menschen, wie eine Reportage der Zeitung „Repubblica“ beschreibt, unter nicht zumutbaren Umständen untergebracht sind. Wie wir seit langem beanstanden, werden die Notversorgungspakete und Telefonkarten (um die Familien zu benachrichtigen, dass sie noch leben) nicht allen verteilt. Die installierten Telefonapparate sind außer Betrieb, die Mensa existiert nicht mehr. Gegessen wird am Boden oder auf Matratzen nach stundenlangem Anstehen unter der Sonne. Die hygienischen Bedingungen sind peinlich – und all das nach dem xten Betreiberwechsel. Am 6. August hat der Betreiber Badia Grande seine Arbeit aufgenommen. Badia Grande hat bereits alle Typologien von staatlichen Aufnahmeeinrichtungen gemanagt – vom Hotspot bis zu den CIE* und CPR*. Der jetzige Betrieb unterscheidet sich in nichts von den Bedingungen unter seinen Vorgängerorganisationen Facility Service und Nuova Generazione. Dieses Zentrum ist ständig überfüllt, weil das Innenministerium ein Interesse daran hat, auf Lampedusa Spannungen und Schande zu verursachen, genau so wie die vorausgehenden Regierungen es in all den Jahren praktizierten.
… und Umgebung
In anderen Haftzentren werden die Migrant*innen abwechselnd „abgestellt“ und jeweils in den Ränkespielen der verschiedenen europäischen Regierungen eingesetzt. Wir erinnern uns zum Beispiel, dass 70 von Open Arms Gerettete nach Pozzallo gebracht wurden. 15 von ihnen wurden wenige Tage später auf dem spanischen Militärschiff Audaz nach Spanien gebracht. Das bedeutete weitere Tage auf See für 15 Glücklose, die nach dem System des Roulettespiels ausgesucht wurden. Im Hotspot Pozzallo befinden sich immer noch die vor einem Monat Geretteten der Gregoretti, die auf das Ende der Verhandlungen über ihre Verteilung in die verschiedenen europäischen Nationen warten. Bürokratische Verhandlungen dauern lang, die Wartezeiten werden unendlich und viele enden in der Flucht, was die Migrant*innen von neuem in die Fänge der Schlepper treibt, die von diesen Geschenken der Politik nur profitieren.
Die Schaffung dieser „Unsichtbaren“ ist eine Taktik, die den Regierungen besonders gut gelingt– es ist ein Geschenk an die italienische Mafia und alle jene, die allerbilligste Arbeitskräfte beschäftigen wollen. Mitarbeiter*innen von Zentren für unbegleitete Minderjährige und von Wohngemeinschaften berichten, dass das Chaos in der Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen total sei: keine Koordination zwischen Ministerien und den lokalen Behörden und Institutionen, Annullierungen von Versetzungen, Trennung von Familien, sinnlose Verlegungen und unzumutbare Arbeitsbedingungen für die Sozialarbeiter*innen. Auch aus dieser Situation ergreifen Jugendliche die Flucht und setzen sich entsprechenden Gefahren aus. Vor allem Jugendliche aus Tunesien verlassen nach wenigen Tagen diese Zentren wieder.
Auch im Sommer wird gestorben
Es ist Sommer – das Sterben macht keine Ferien. Auf allen Migrationsrouten nach Europa sterben Menschen: in der Wüste, in Libyen, zur See. Wie bereits berichtet, erfüllt auch Tunesien seine Rolle als Grenzposten und zwar auf gewalttätige und missbrauchende Weise. Ein eben angekommener Minderjähriger hat uns erzählt, dass er von der tunesischen Küstenwache aufgegriffen wurde und zusammen mit andern Erwachsenen ins Zentrum des Roten Kreuzes gebracht wurde. Nach zwei Monaten wurde er dort hinausgeworfen, fiel in die Hände skrupelloser Menschen und litt Hunger und Durst. Später haben ihm andere Schlepper auf einem anderen Boot die Flucht ermöglicht.
Wir wollen uns auch an Elisa erinnern – ein acht Jahre altes Mädchen aus Syrien. Ihr kurzes Leben ging zu Ende, weil ihr Vater es nicht retten konnte auf See. Er hat uns am Telefon verzweifelt gefragt, an wen er sich wenden müsse, um den Leichnam seiner Tochter zu finden. Er wolle sie nicht auf dem Meeresgrund zurücklassen. Er selbst ist zusammen mit seinem Bruder und vielen andern von der libyschen Küstenwache rücküberführt worden.
Der Vater von Elisa und Abdulay, beide bitten uns für ihre Kinder zu beten. Sie machten sich für ihre Kinder auf die Reise, für ihre Kinder suchten sie nach einem besseren Leben. Und wir verhindern das, indem wir uns unheilvolle Macht anmaßen über Leben und Tod anderer Menschen.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CIE Centro Identificazione ed Espulsione: Abschiebehaftzentrum
*CPR Centro per il Rimpatrio: Zentrum zur Rückführung
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera