Wir errichten Mauern und schlagen Kapital aus den Migrant*innen
Sind wir uns so sicher, dass wir keine Migranten wollen? Sind wir tatsächlich sicher, dass es besser ist, wenn sie zuhause bleiben, wo sie Hunger leiden oder von einer ferngesteuerten Waffe getroffen werden, die bei uns entwickelt – und von unseren Verbündeten abgeschossen wurde?
Wir sind tatsächlich nicht mehr überzeugt davon. Im Gegenteil, wir haben berechtigte Zweifel daran, wenn wir die Klagen der Betreiber von Aufnahmezentren (vor allem derer für unbegleitete Minderjährige) vernehmen, die um ihre Einkünfte fürchten, während viele andere ihren Arbeitsplatz bereits verloren haben. Auch zum jetzigen Zeitpunkt, da die Zahl der Ankünfte merklich gesunken ist, fährt die Region Sizilien unbeirrt fort mit dem Erteilen von Genehmigungen für Neueröffnungen von Aufnahmezentren, denn die damit verbundenen Geldströme sollen der Wirtschaft vor Ort erhalten bleiben. Die Kooperativen ihrerseits tun alles, um Geflüchtete aufzunehmen, um kein Personal entlassen- und um die Einrichtungen nicht schließen zu müssen.
Zurzeit werden die wenigen minderjährigen unbegleiteten Migranten direkt von Rom aus den FAMI* Erstaufnahmezentren zugewiesen, die lokalen Gemeindebehörden oder die Quästuren sind dafür nicht mehr zuständig. Von dort sollten sie in ein SPRAR*, eine kommunale Aufnahmestruktur für unbegleitete Minderjährige mit Integrationsangebot, überwiesen werden. Aber die SPRAR sind überfüllt und darum werden die Jugendlichen sechs bis acht Monate, meistens sogar bis zur Volljährigkeit in den FAMI Zentren, die eigentlich bessere Arbeitsvoraussetzungen hätten, zurückgehalten.
Da die Einrichtungen zurzeit ohne Migrant*innen, ob minderjährig oder nicht, kaum überleben können, beteiligen sich an diesem Wettbewerb jene Kooperativen und mächtigen Arbeitsgemeinschaften, die in bereits bestehenden Projekten für die lokalen Behörden arbeiten und die über beträchtlichen politischen Einfluss verfügen – und das zum Nachteil der kleinen Initiativen, die gezwungen sind aufzugeben. Manchen dieser Konsortien ändern einfach ihren Namen, wenn sie bereits durch Ermittlungen belastet sind; oder sie verändern für einen weiteren Wettbewerb ihr Erscheinungsbild, um weiterhin auf dem Rücken der Migrant*innen Geld zu verdienen. Kooperativen und Konsortien, die in einer Provinz wegen mangelhafter Aufgabenerfüllung ihre Tätigkeit auf richterlichen Beschluss hin einstellen mussten, nehmen kurzerhand an neuen Ausschreibungen in einer anderen Provinz teil.
Zurzeit gibt es überall in Sizilien solche Ausschreibungen, die Kooperativen bekämpfen sich darum aufs äußerste für einen Platz an der Sonne durch Widerspruchsklagen und alternative Angebote. In Palermo fehlen 2000 Plätze, die bestehenden 1700 genügen auch im Hinblick auf den geplanten Hotspot nicht, trotz der gegenteiligen, PR-wirksamen Beteuerung des Bürgermeisters Leoluca Orlando. Offenbar hat die Präfektur das Grundstück dafür im Norden der Stadt bereits gefunden.
Außerdem registrieren in Palermo viele Einrichtungen für Minderjährige keine Neuzuweisungen mehr. Darum werden sie aus rein auf Profit ausgerichteten Gründen in außerordentliche Empfangszentren* umgewandelt. So ist zum Beispiel die Einrichtung in der Via Monfenera, die Casa Marconi, welche zwei Einheiten für Jugendliche, AZAD und ELEM führte, verändert worden. Es gibt nun nur noch eine Einheit für die Minderjährigen (zumindest bisher), die andere ist nun ein CAS, ein außerordentliches Erstaufnahmezentrum. Nun leben Erwachsene und Jugendliche im gleichen Haus, jedoch auf verschiedenen Stockwerken – all das im Interesse der Wirtschaftlichkeit. Gleichzeitig werden andere mangelhafte außerordentliche Erstaufnahmezentren wie das in Ciminna geschlossen.
Dario Caputo heißt seit Januar der neue Präfekt von Agrigento. Er ist der Nachfolger von Nicola Diomede, gegen den polizeilich ermittelt wird im Fall Girgenti Acque. Caputo stehen einige Herausforderungen bevor, wie beispielsweise die Ausschreibung für den Hotspot in Lampedusa, der neu konzipiert werden soll. Noch ist nicht klar, was geplant ist, denn aktuell dient das Gebäude als Abschiebegefängnis* für Migrant*innen aus Tunesien. Außerdem müssen 600 Plätze für die Erstaufnahme bereitgestellt werden, doppelt so viele wie bereits existieren. Zudem muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass unzählige SPRAR* wegen mangelhafter Zustände geschlossen werden mussten.
Dieses Business ist uferlos und findet auch durch die Mauern, die wir errichten um die Migrant*innen fernzuhalten, kein Ende. Letzte Woche sind mehr als 200 tunesische Migrant*innen in Lampedusa und Trapani auf zwei drei nicht aufgegriffenen Booten angekommen. Sie wurden in den Hotspot gebracht, wo keine humanitären Organisationen vor Ort waren. Einige der Migrant*innen wurden über Palermo nach Tunesien rücküberführt. Die anderen, welche die im Rückübernahmeabkommen festgelegte Anzahl überschritten, erhielten einen Zurückweisungsbescheid. Niemand von ihnen hatte die Gelegenheit den internationalen Schutzstatus zu beantragen, denn nur Frontex war vor Ort. Eine rechtlose Situation, auch weil wenig Mitarbeiter*innen des UNHCR auf dem Gebiet anwesend sind. Die UN-Flüchtlingsorganisation, anstatt sich mit den anderen humanitären Organisationen zu koordinieren um sich den Mängeln dieses Systems zu widersetzen, gebietet so dem Notstand keinen Einhalt, sondern erhält ihn eher noch am Leben.
Wenige ehrliche Betreiber versuchen ihr Möglichstes, selbst wenn sie es sich mit den Institutionen verscherzen, die am längeren Hebelarm sitzen. Es geht unter anderem darum, ob die Menschen aus Tunesien abgewiesen oder rücküberführt werden sollen. Wenn Migrant*innen aus Tunesien sich handgreiflich widersetzen, wird die Presse sogleich alle tunesischen Migrant*innen kriminalisieren, um einmal mehr die Praxis der kollektiven Rücküberführung zu rechtfertigen.
Dass das Leben der Migrant*innen keinen Wert hat, ist längst zur Tatsache geworden. Über die allen bekannte Situation in Libyen hat auch die UNO Bericht erstattet:“ Die Migrant*innen werden willkürlich gefangen gehalten, gefoltert, vergewaltigt und sind Opfer anderer Formen sexueller Gewalt“, schreibt der Generalsekretär, der sich auf die Berichte von Unsimil, der UNO-Mission in Tripolis, stützt. Sowohl in den Zentren der Regierung als auch in den illegalen Lagern geschehen „Entführungen zum Zweck der Erpressung, Zwangsarbeit und Tötungen“. Die Peiniger tragen meist Uniformen einer der libyschen Armeen, die von Italien und Europa mitfinanziert werden. Der Generalsekretär versichert: „Die Täter sind Funktionäre des Staates, bewaffnete Gruppen, Schmuggler, Menschenhändler und kriminelle Banden.“
Wir Italiener*innen sind offensichtlich Auftraggeber*innen von Gewalt und Massakern. Letzte Woche sind einige Gummiboote in libysche Hände geraten. Die Hilfsorganisationen kämpften gegen die libysche Küstenwache um Leben zu retten. Zur gleichen Zeit lagen in Catania zwei Boote der italienischen Küstenwache, eines der italienischen Marine und ein deutsches Schiff vor Anker, die dem Frontex – Dispositiv angehören. Dieses Wochenende sind in Lampedusa weitere 180 Migrant*iinen aus Tunesien gelandet. Sie wurden in den dortigen Hotspot mit einer reduzierten Kapazität von 90 Notfallplätzen gebracht, welcher eigentlich geschlossen werden sollte. Ihr Schicksal: ein Teil von ihnen wird rücküberführt und die anderen werden auf die Strasse gesetzt, ohne Rücksicht auf die individuelle Situation zu nehmen und ohne jeglichen Schutz.
Tägliches, illegales Vorgehen vor unseren Augen, während die, die auf die Straße gesetzt werden gezwungen sind, sich weiteren Peinigern auszuliefern, die entsprechende Netzwerke vom Norden bis zum Süden geschaffen haben, um die Migrant*innen weiter auszunutzen. Man denke bloß an die unzähligen Schlepper, die von Sizilien nach Nordeuropa gelangen und an die vielen Italiener*innen, die Gastaufnahme- und Wohnsitzerklärungen verkaufen für die Erneuerungen der Aufenthaltsbewilligungen.
Ausschreibungen für Neueröffnungen von außerordentlichen Aufnahmezentren, von Hotspots, von Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige – die Migrant*innen sind eine wichtige Ware in dieser Industrie. Wir sind daran immer neue Mauern zu errichten um der öffentlichen Meinung, die von xenophoben, rassistischen politischen Kräften gesteuert wird, zufrieden zu stellen. Gleichzeitig sterben zu viele Menschen, die namenlos in den Friedhöfen Tunesiens, Libyens, der Türkei und bei uns in Sizilien begraben werden. Die Einsätze werden immer höher, wie die Gelder, die bereitgestellt werden für die gleichen Kooperativen und NGOs, die – wenn auch auf verschiedenen Seiten – am gleichen Tisch sitzen.
Redaktion Borderline Sicilia
*FAMI (Fondo Asilo, Migrazione e Integrazione) Stiftung der europäischen Union für ihre Mitgliedländer zur Finanzierung und Bewältigung der Migrationsströme und der Umsetzung, Verstärkung und Entwicklung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik.
* SPRAR (Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo) Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung). Es ist als Zweitunterkunft konzipiert, wo Integrationsangebote bereitgestellt werden sollen.
*CAS – Centro di Accoglienza Straordinaria: außerordentliches Aufnahmezentrum
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé