Mangel an Respekt vor der Menschlichkeit
Wie oft hören wir unsere Großeltern oder meistens ältere Leute sagen, dass es heute keinen Respekt mehr gibt. Auf der Straße, in der Schule und auch in der Familie macht sich ein Abdriften der Erziehung spür- und sichtbar, und in dieses Abdriften hat sich auch eine Politik gemischt, die inzwischen von Unmenschlichkeit und Respektlosigkeit gegenüber dem Nächsten geprägt ist.
Was wirklich beunruhigt, sind nicht nur die schamlosen Tweets des einen oder anderen Ministers, sondern das Schweigen jener Mitglieder unserer Gesellschaft, die dieser Art der Kriegsführung gegenüber Schwächeren, finanziell Benachteiligten und Ausgegrenzten unbedingt Einhalt gebieten sollten. Auch die katholischen Kreise, die mit Nachdruck auf das, was in unserer Gesellschaft geschieht, reagieren müssten, beschränken sich darauf, den „Tag der Armut“ auf rhetorische und sterile Weise zu zelebrieren, ohne dazu beizutragen, die Armut zu eliminieren.
Es ist kaum eine Woche vergangen seit der Farce eines Gipfeltreffens für Libyen in Palermo – ein Fiasko für die Migrant*innen und alle Benachteiligten der Gesellschaft. Am Tag nach dem Gipfeltreffen ereignen sich Desaster, die wir als Ermordungen anklagen müssen: 20 Personen sterben in Cadiz in Spanien (zurzeit die am meisten benutzte Route zur See, um Europa zu erreichen); 2 Tote in Sardinien und 8 Vermisste; wir zählen 14 Mordversuche im Val di Susa, wo die Migrant*innen, die auf der Suche nach einer neuen Perspektive für ihr Leben waren, in den Bergen wegen des Wintereinbruches ebendieses verloren. Außerdem haben 81 Personen sich auf einem Frachtschiff in Libyen verbarrikadiert und sind bereit zu sterben, um nicht in die Hölle zurückzukehren, aus der sie geflohen sind.
Über das Schicksal der auf Lampedusa angekommenen Migrant*innen hat man nichts mehr erfahren, nachdem Malta ihnen Rettungswesten und Benzin ausgehändigt hatte. Humanitäre Organisationen vor Ort versuchen Licht in die Vorkommnisse zu bringen, über die geschwiegen werden soll. Das gleiche Schweigen herrscht in anderen Institutionen, in der Presse und der Fernsehberichterstattung – es wird nicht über die täglichen Ankünfte auf Lampedusa und die Schicksale der Menschen dort berichtet.
Es ist ein Krieg und diese Menschen sind Kriegsopfer. Sie sind Opfer einer verlorenen Menschlichkeit, einer Menschlichkeit, die sich der Macht unterworfen hat, wo Erklärungen mehr Wert sind als Handlungen. Die Kriegsbulletin trägt den Realitäten in unserem Lande nicht Rechnung. Es würde genügen, die Berichte über die Monitoringtätigkeiten der Zwangsrückführungen von ausländischen Bürger*innen des Nationalen Garanten für die Rechte von Personen, die inhaftiert oder ihrer persönlichen Freiheit beraubt sind oder den Jährlichen Bericht zu den SPRAR*-Einrichtungen zu analysieren. Dann würden wir merken, dass wir blind gemacht werden von der Propaganda und Lichtjahre entfernt sind von der Wahrheit über die Dimension des wirklichen Geschehens in unserem Lande.
Indessen haben die Präfekturen in Sizilien begonnen, die Ausschreibungen zum Betreiben von Empfangszentren für Asylsuchende und für die Unterstützung von Personen, die den internationalen Schutzstatus beantragen, zu widerrufen. Sie warten auf neue Direktiven, die die Zusammenarbeit mit den Betreibern der Zentren regeln sollen und einer neuen Leitlinie folgen. Diese Leitlinie sieht neue Vertragsbedingungen und Ausschreibungsmodelle vor, vor allem im Hinblick auf die Herabsetzung und Rationalisierung der Kosten. In diesem Zusammenhang haben auch die Zentren für unbegleitete Minderjährige, welche mit Mitteln aus dem Fonds für Asyl, Migration und Integration (FAMI) der italienischen Regierung finanziert werden, eine Mitteilung des Ministers erhalten, die besagt, dass die Projekte seit Beginn November um die Hälfte gestrichen werden müssen und das, ohne vorausgehende Ankündigung.
In Anbetracht des stetigen Abbaus dieses ärmlichen und heruntergekommenen Aufnahmesystems wundern wir uns nicht über die sichtbaren Folgen in den Gebieten, die an Landwirtschaftszonen angrenzen: verlassene Höfe, die jedoch immer öfter von vielen Menschen bewohnt werden. Sobald das neue Sicherheitsdekret in Kraft tritt – ein Geschenk des Himmels für den mafiösen Markt der gefälschten Wohnsitzbescheinigungen, der gefälschten Arbeitsverträge – wird in der Folge die Zahl der Personen ohne legale Aufenthaltserlaubnis weiter ansteigen. So war es beim betrügerischen Straferlass von 2012 – ein willkommenes Geschenk für die Gesetzesbrecher.
Trotz aller Widerstände werden wir weitermachen mit unserem Monitoring und der Überwachung dieses Geschehens, wir werden uns mit Menschen auf der Straße treffen und wir werden immer bereit sein, Unrecht anzuklagen um den Opfern dieses Systems eine Stimme zu geben. Wir brauchen keine Direktübertragungen im Fernsehen, in denen „kleine schwarze Kinder“ geküsst werden oder „arme Leute“ umarmt werden. Wir brauchen keine Wohltätigkeit, denn, wie Eduardo Galeano sagt: „Wohltätigkeit ist demütigend, weil sie vertikal von oben herab ausgeführt wird; Solidarität ist horizontal und setzt gegenseitigen Respekt voraus“ – genau das, was wir verloren haben.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen.
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera