Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, in Libyen zu sterben

„Wir sind nicht dumm:
vielleicht sprechen nicht alle gut eure Sprache, aber wir alle haben Augen, um
zu sehen. Wir beobachten alles, was um uns herum geschieht, und verstehen, wie
die Dinge laufen.“

Es sind starke Worte, die A. hier sagt, der im Schutzsystem
für Asylsuchende und Flüchtlinge (SPRAR) in Montevago untergebracht ist, das
von der Sozialkooperative Quadrifoglio betrieben wird; ich habe ihn vor einigen
Tagen vor der Präfektur in Agrigento getroffen, wo er auf sein Gespräch mit der
Asylkommission wartete. „Wir haben tausend Gedanken im Kopf, die uns nicht
schlafen lassen: die langen Wartezeiten, Sorge um unsere Familien … zu viele
Dinge, die uns beschäftigen und uns an nichts anderes denken lassen.“
Diese
Gedanken graben sich tief in ihre Köpfe und Seelen, setzen sich dort fest und
werden zu einer regelrechten Obsession. Ja, einige von ihnen haben Jobs, die
sie einige Stunden am Tag beschäftigen, aber für die anderen, die nichts zu tun
haben, werden die Tage lang, als wären sie Wochen: Wie bringt man die Gedanken
zum Stillstand? Um diesem obsessiven Grübeln zu entgehen, braucht es einen
eisernen Willen, den viele von ihnen jedoch verloren haben. Die Schwierigkeit,
sich zu konzentrieren, bringt viele dazu, dem von den Betreibern angebotenen
Italienischunterricht fern zu bleiben, und so bleiben ihre Sprachkenntnisse auf
halber Strecke, die jedoch für die Integration und Interaktion mit dem Umfeld
grundlegend sind.

Es ist Mittag, es ist heiß,
und die Jugendlichen sind seit dem frühen Morgen unterwegs, da der erste von
ihnen seine Anhörung um 9 Uhr haben sollte. Ich frage, ob jemand von den fünfen
derzeit den Ramadan praktiziert. „Nur einer“, berichtet A., „viele der Muslime
haben das Fasten unterbrochen. Um den Ramadan zu befolgen, musst du in einer
körperlichen und psychischen Verfassung sein, die einer solchen Anstrengung
gewachsen ist, sonst ist es für den Körper zu anstrengend. Aber weil sie nicht
unbeschwert sind, haben viele damit aufgehört, für ihr eigenes Wohlergehen.“
Wir sprechen über dies und das, Politik, Medien, Reisen, Pläne, Träume. Wir
sind mittlerweile noch zu dritt, ich, A. und ein Nigerianer. Es ist ein
angenehmes Gespräch, ein Austausch, ein Geschenk, eine Hoffnung. Sie danken mir
dafür, dass ich stehen geblieben bin, sie gegrüßt und angesprochen habe, mit
ihnen rede: „Normalerweise sehen uns die Leute im Vorbeigehen schief an, wir
spüren viel Misstrauen uns gegenüber.“
Dieses Problem des Misstrauens und des fehlenden Willkommenheißens versucht die
Kooperative Quadrifoglio durch Sensibilisierung, Interaktion und Teilhabe von
Asylbewerbern und Einheimischen zu lösen. Die Veranstaltung „Somalische Märchen
und afrikanische Musik“ vom vergangenen 23. Juni in der Aula der Gemeinde
Montevago ist ein Beispiel dafür (im Juli finden weitere Veranstaltungen statt,
beispielsweise „Aid Al Fitr“, das Fest zum Abschluss des Ramadan. Weitere
Informationen unter www.cooperativaquadrifoglio.it oder
quadrifogliosprar@gmail.com). Die Teilnahme der Bewohner von Montevago, Sambuca
di Sicilia, S. Margherita und Porto Empedocle sowie anderer Ortschaften, in
denen die Kooperative aktiv ist, ist jedoch gleich null: an der gerade
genannten Veranstaltung nahm nur der Bürgermeister des kleinen Dorfes Calogero
Impastato mit einer weiteren Person teil. Einige Mitarbeiter der Kooperative
geben jedoch zu, dass sie solche Veranstaltungen besser und rechtzeitiger
bewerben müssten. Doch leider gerät dies unausweichlich in den Hintergrund,
weil dringendere Probleme angegangen werden müssen: Wie beispielsweise die
Frage danach wie man den Frust der Jugendlichen wegen der langen Wartezeiten im
Zaum hält oder aber wie man sich mit den öffentlichen Behörden in Verbindung
steht. Trotz der vornehmlich verbalen Auseinandersetzungen mit den Mitarbeitern,
aufgrund blankliegender Nerven, wissen die Bewohner die Bemühungen der
Kooperative zu schätzen, die schwierige Situation zu meistern, mit der sie
umgehen müssen. Dies bezieht sich vor allem auf die Mitarbeiterin, die sie von
Montevago im Auto bis zur Präfektur in Agrigento mitgenommen hat, A. sagt, er
schätze sie sehr, da sie Druck macht und sich dafür einsetzt, die Dinge
voranzutreiben, soweit es ihr möglich ist. Vertrauen und Respekt zwischen
Bewohnern und Mitarbeitern (leider nicht in allen Fällen, aber glücklicherweise
trifft man an einigen Orten noch auf etwas Menschlichkeit) – welches jedoch
durch das absurde und ungesunde Aufnahmesystem Italiens auf eine harte Probe
gestellt wird, unter deren Konsequenzen letztlich vor allem die Migranten und
die (ehrlichen) Mitarbeiter zu leiden haben.
„Ich weiß, ich werde nicht für immer in Italien bleiben können“, fährt A. fort,
„und das will ich auch gar nicht. Ich möchte eines Tages in mein Land
zurückkehren und dort eine Musikschule eröffnen. Ich bin gut, ich habe Talent.
Viele denken, wir seien alle Analphabeten, aber das stimmt nicht. Wie haben
Talente, Leidenschaften, Träume, viele von uns haben auch einen
Studienabschluss!“ Arbeitskräfte für unser Land, welches sich in einer tiefen
wirtschaftlichen, kulturellen und menschlichen Krise befindet, die man jedoch
lieber in Zentren sperrt und ihnen langsam, aber systematisch das einzige
nimmt, das ihnen geblieben ist: das Vertrauen in sich selbst und ihre
Fähigkeiten. „Ich habe in Libyen überlebt, ein fürchterliches Land, dann bin
ich in Lampedusa angekommen und nach Palermo und schließlich nach Montevago
verlegt worden. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, in Libyen zu
sterben, dann wäre ich jetzt wenigstens an einem besseren Ort, nah bei Gott,
der meinen Wert kennt.“ Doch zum Glück, räumt er ein, hat er die Musik, seine
große Leidenschaft, die ihm Ablenkung und Freude bereitet. Er weiß, dass er
sich auf gewisse Weise glücklich schätzen kann.

Er erzählt mir, wie schlecht er
sich fühlt, wenn er Migranten sieht, die auf der Straße schlafen, wie es bei
einem Besuch in Palermo geschehen ist. Bei der Gelegenheit hatte ihn ein
Mädchen angesprochen und gebeten, ihre Familie in ihrer Heimat anrufen zu
dürfen, um ihnen zu sagen, dass sie in Italien angekommen ist. Er erzählt mir,
wie erstaunt er war, als er hörte, dass sie auf der Straße lebt, als einzige
Frau unter vielen jungen Männern. „Ich hatte einen kleinen Rucksack dabei,
gerade mal ein T-Shirt, eine Hose und die Schuhe. Ich habe ihr alles
dagelassen.“ Gesten der Solidarität unter Migranten: das ist leider nicht immer
so, sagt A. Insbesondere zwischen denjenigen, die schon länger in Italien sind,
und den Neuankömmlingen. Oft sind es entfernte Verwandte oder Bekannte, und dennoch
schließen wir aus einigen Berichten, die wir bei verschiedenen Gelegenheiten
eingeholt haben, dass nach der Ankunft in Europa die Regel gilt: „Jeder geht
seiner Wege.“ An die Stelle der typisch afrikanischen Solidarität – mit
Anteilnahme und Unterstützung in jeglicher Situation, da ja alle Brüder und
Schwestern sind – treten in Italien falsche Versprechungen, unbeachtete Anrufe
oder klare Aussagen wie: „Als ich in Italien angekommen bin, war niemand da,
der mir geholfen hat, und ich musste allein sehen, wie ich klarkam: Jetzt bist
du dran.“

Einwanderung: ein Teufelskreis in jeder Hinsicht, der anscheinend nicht durchbrochen
werden kann. Dabei bräuchte es nur so wenig, um die Situation in etwas
Positives zu verwandeln. Als allererstes müsste man zum Beispiel aufhören,
Einwanderung: a) als einen Notstand zu betrachten, da es sich seit nunmehr
mindestens 15 Jahren um ein regelmäßiges und wiederholtes Phänomen handelt,
wirklich lange genug also, um ein in jeder Hinsicht angemessenes Aufnahmesystem
zu entwickeln und zu planen. Wie viele verlassene, baufällige, leerstehende
oder dem organisierten Verbrechen beschlagnahmte Gebäude gibt es in Italien?
Diese Gebäude in Ordnung zu bringen und den Migranten anzuvertrauen wäre ein
sinnvolles Projekt der Nutzbarmachung, Gegenseitigkeit, Verantwortung und
Empowerment; b) Einwanderung als Invasion zu sehen, denn wenn man die
Statistiken zu Rate zöge, würde man erkennen, dass die Ankünfte über den Seeweg
über die Jahre hinweg im Durchschnitt recht gleichmäßig geblieben sind, was den
erstgenannten Punkt bekräftigt:
http://unhcr.it/risorse/statistiche/sea-arrivals-to-italy). Zweitens muss man
die Gründe, die diese Personen dazu bringen, ihr Zuhause, ihre Familien, ihre
Heimat zu verlassen und sich auf eine tödliche Reise zu begeben, genau
verstehen. Achja, die Hauptgründe sind die Ausprägungen der zeitgenössischen
europäischen Kolonisierung: sie anzuerkennen würde bedeuten, die eigene
Verantwortung und Schuld einzugestehen und, möglicherweise, auf einigen Komfort
zu verzichten, an den wir uns mittlerweile zu sehr gewöhnt haben. Nein, nein,
das lassen wir besser. Besser, wir vertuschen das alles weiterhin und lenken
die Aufmerksamkeit der Leute ab, lassen sie glauben, dass die Ausländer an
allem Schuld sind. Denn wir sind ja Meister der Manipulation.

Caterina Bottinelli
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von
Renate Albrecht