Lampedusa zählt die Toten
Das Meer unterscheidet nicht, es ist in keiner Weise rassistisch und es verschluckt alles, was wir anbieten: Und es sind die Menschen auf Lampedusa, die weinen, sie, die weiterhin die Toten zählen und einsammeln. Die Toten haben eins gemeinsam, sie wurden von diesem System arm gemacht: Fischer, die dem Meer die Stirn bieten, um leben zu können und die eigenen Familien zu ernähren und Migrant*innen, die Freiheit suchen und die eigenen Familien ernähren möchten. 2017 hat begonnen wie 2016 geendet hat, mit Toten über Toten, mit der täglichen Tötung von Jugendlichen, Frauen und Kindern. Menschenopfer ohne Ende.
In der Nacht des 14. Januars, gegen drei Uhr, sind 61 Personen auf der Insel angekommen, darunter 14 Frauen, 4 Kinder und zwei Leichen; ein dritter Leichnam gehört zu einem jungen Migranten, der den letzten Schritt der Reise nicht durchgehalten hat und kurz nach Erreichen der Insel gestorben ist. Den letzten Schritt der Reise hat er auf einem Schnellboot der Küstenwache zurückgelegt, auf dem es keinen Schutz gibt; so kann derjenige nicht durchhalten, der von unmenschlichen Anstrengungen geschwächt ist, und er stirbt, wie es schon des Öfteren geschehen ist, auf der Insel. Für die schwangere Frau hat es sich dagegen als notwendig erwiesen, sie in einem Hubschrauber in ein Krankenhaus nach Palermo zu bringen. Hinsichtlich der angekommenen Leichen gibt es keine Nachricht, weder bezüglich ihres Geschlechtes noch ihrer Nationalität. Noch mehr Unsichtbare.
Die Anlandung an der Mole Favaloro war besonders mühevoll, da es den Menschen sehr schlecht ging und manche sich auch in einem verwirrten Zustand befanden. Wie immer und auch nachts, hat die Anwesenheit des Solidaritäts-Forums Lampedusa mit heißem Tee und einem Lächeln des Willkommens das Leiden der Migrant*innen ein wenig gemildert; angesichts des Zustands fast aller Migrant*innen haben sich die Agenten von Frontex einmal nicht wie Geier auf sie gestürzt, um Fragen zu stellen und Informationen zu erzwingen, sondern haben mitgeholfen die heißen Getränke des Forums zu verteilen.
Danach sind um den 13. herum weitere 60 Personen auf der Insel angelandet, befördert von einem Fischerboot aus Mazara del Vallo. Zum Glück hat die Solidarität unter den Armgemachten, trotz des Willens der europäischen Politik zu töten, weitere Tote verhindert. Die 60 sehr jungen Ankömmlinge waren in einer guten Verfassung und auch diese wurden vom Solidaritäts-Forum Lampedusa empfangen, dieses Mal am Handelskai.
Um den Tag zu beenden: Am späten Nachmittag sind weitere 140 Personen gerettet worden, dieses Mal von dem maltesischen Handelsschiff Kreta; auch ihnen ging es gut, trotz der schwierigen meteorologischen Verhältnisse.
Am Ende eines langen Tages sind 250 Personen und 3 Leichen auf der Insel angekommen. Leider gab es an diesem letzten Wochenende sehr viele bestätigte Tote, zu viele. Mit unserer Heuchelei haben wir auch den Welttag für Migrant*innen und Geflüchtete gefeiert, ein Tag gekennzeichnet vom Tod weiterer unschuldiger Opfer. Auf dem Mittelmeer hat ein weiteres Massensterben stattgefunden, ein Schiff hat in der Nähe der libyschen Küste Schiffbruch erlitten. Bis jetzt sind 8 Leichen geborgen worden und 4 Überlebende, die berichtet haben, dass an Bord des Schiffes 190 Personen waren, die vom Meer verschluckt worden sind. Ein weiteres Datum, das wir in unserem Kalender ankreuzen können, um eine weitere Gedächtnisveranstaltung abzuhalten; damit reinigen wir unsere Gewissen und geben einigen Politiker*innen Gelegenheit zu einem Auftritt.
So hat sich auf Lampedusa der Hotspot der Contrada Imbriacola aufs Neue gefüllt; 80 Personen waren noch dort und mit den 260 Angekommen liegt die Zahl der Anwesenden bei ca. 350, Minderjährige, Frauen und Männer. Eine Situation, in der die aktuelle Betreibergesellschaft (wahrscheinlich Anfang Februar) den Staffelstab an das Rote Kreuz der Hauptstadt Rom und Misericordia di Firenze weitergibt. (Die Mitarbeiter*innen werden dieselben bleiben, aber es wechselt die Führungsspitze, Gewinner der Ausschreibung.)
Wahrscheinlich werden die drei Opfer nicht auf Lampedusa beerdigt (werden sie nach Agrigent überführt?), die man zu dem Fischer hinzuzählen muss, der auf dem Meer gestorben ist; die Menschen auf Lampedusa werden alle auf die gleiche Art und Weise beweinen, weil sie uns seit jeher gelehrt haben, was der Empfang auch der Toten in einer Gegend bedeutet, die sich in andauernder Trauer befindet, – von allen vergessen; und darin hat das System einmal mehr gewonnen.
Warum gewinnt es mit solcher Leichtigkeit?
Wahrscheinlich, weil das konsumorientierte System in dem Augenblick gewonnen hat, in dem wir den Kampf für die Rechte Aller aufgegeben und uns darauf beschränkt haben, uns um den eigenen Lebensstandard zu kümmern; wir haben die Idee der Freiheit aufgegeben und ziehen es vor, uns von inkompetenten Politiker*innen „kontrollieren“ zu lassen und unseren Kleingarten zu hegen; wir sind Sklav*innen eines Systems, das uns betäubt hat.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber