Lampedusa: Sie nehmen die Verlegungen und Abschiebungen wieder auf und die Proteste gehen weiter
In diesen Tagen waren wir bei der Auslösung einer Reihe von Protesten anwesend, die sich in einer Art Kettenreaktion über alle Städte Siziliens ausgebreitet haben; wie es scheint, haben sie auch den Rest Italiens angesteckt. Das ist ein Zeichen dafür, dass das System nicht funktioniert, auch wenn unsere Politiker so tun, als ob sie nichts sähen und nach Lösungen suchten.
In Lampedusa bleibt die Situation immer noch angespannt. Dort ist nach 6 Tagen eine Gruppe von 20 Personen übrig geblieben, die weiterhin im Stadtpark protestiert. Es sind fast alles Menschen aus dem Sudan, die sich seit drei Tagen im Hungerstreik befinden. Unter ihnen ist auch eine schwangere Frau, die die medizinischen Untersuchungen zurückweist. Seit wenigen Stunden haben weitere fünf Migrant*innen entschieden, den Protest zu beenden, in den Hotspot zurückzukehren und sich identifizieren zu lassen.
Die übrigen Demonstrant*innen (ca. 40 Personen) sind am Mittwochabend ins Zentrum zurückgekehrt, um sich freiwillig und ohne Angst vor Vergeltung der Prozedur der Identifikation zu unterziehen. Das wurde in den vergangenen Tagen ermöglicht durch die Mediation des Vereins Askavusa, des Friedensforums von Lampedusa und durch die Garantien, die mit der Polizei verhandelt wurden. Auch Borderline Sicilia hat einen Beitrag dazu geleistet und den Protestierenden Rechtsberatung angeboten. Die ist nötig, um die vielen Fragen zu beantworten, die die Migrant*innen bezüglich ihrer Lebensbedingungen und ihrer Zukunft in Italien zum Ausdruck gebracht haben.
Migrant*innen, die in Italien ankommen, erwartet ein Hindernislauf voller Fallen. Gestern hat es eine Gruppe aus dem Maghreb getroffen (Tunesier*innen, Marokkaner*innen und Ägypter*innen). Ihr Traum wurde auf Lampedusa abgebrochen. Dort wurden sie gestern identifiziert, nachdem sie an den Protesten der vergangenen Tage teilgenommen hatten. Danach wurden sie, mit Plastikfesseln an den Handgelenken, mit dem Flugzeug nach Palermo gebracht, um ihre Abschiebung durchzuführen.
Mindestens drei Tunesier*innen wurden im CIE* von Caltanissetta festgehalten. Der Rest der Gruppe blieb im Flughafen, in Erwartung der Charterflüge nach Tunesien und Marokko. Die Ägypter wurden nach Catania umgeleitet, um derselben Bestimmung zu folgen. Die erkennungsdienstliche Prozedur wurde in den beiden sizilianischen Flughäfen durchgeführt. Anwesend waren die Funktionäre der entsprechenden Heimatländer, die bilaterale Abkommen mit Italien unterzeichnet haben.
Heute Morgen ist die Polizei zurückgekehrt, um eine Mediation mit der Gruppe von Demonstrant*innen im Hungerstreik und mit der Frau, die die medizinische Behandlung verweigert, zu versuchen. Auch einige Mitglieder von Askavusa und dem Friedensforum versuchen weiterhin die Beendigung des Hungerstreiks zu erwirken, weil sie um das Leben dieser Menschen fürchten.
Auch die Ex-Parlamentarierin Angela Maraventano demonstriert weiterhin; sie fordert die sofortige Schließung des Hotspot von Lampedusa und darüber hinaus die Evakuierung der Demonstrant*innen. In ihrem Liegestuhl harrt auch sie seit 4 Tagen (während der Bürozeiten) an der Seite der Migrant*innen im Protest im Stadtpark der Insel aus.
Der Schirokko hat sich gelegt. So konnte heute Morgen das Schiff endlich wieder abfahren. Rund einhundert Personen können jetzt verlegt werden; unter ihnen sind auch einige Migrant*innen, die an den Protesten beteiligt waren und die dann ihre Identifizierung akzeptiert haben. Im Hotspot von Lampedusa verbleiben ca. 130 Personen; darunter eine Gruppe von unbegleiteten Minderjährigen, die seit fast 20 Tagen festgehalten werden.
Verletzung der Rechte und illegale Praktiken folgen einander ohne irgendeine Pause, so für die unbegleiteten Minderjährigen in Agrigent. Bei den Vereinen, die für deren Wohngemeinschaften verantwortlich sind, kommen die Gelder nicht an. So haben sie sich entschlossen, die Minderjährigen vor die Präfektur zu bringen und gegen die Verspätungen der Bezahlungen zu protestieren, dier erst nach sechs Monaten ankommen. Das hat eine Reihe von Missständen hervorgerufen, unter anderem die ausbleibende Bezahlung der Gehälter der Mitarbeitenden, wie auch die fehlende Liquidität für die Versorgung der Minderjährigen mit Dingen des grundlegenden Bedarfs. Die Minderjährigen sind offensichtlich das schwächste Rädchen im Getriebe und, ohne sich dessen bewusst zu sein, Protagonist*innen in der prekären italienischen Migrationspolitik. Die Tatsache wird noch einmal schwerwiegender, wenn man bedenkt, dass Agrigent die italienische Provinz mit den meisten Einrichtungen für Minderjährige ist und dass Präfekt Morcone in der Anhörung durch die Untersuchungskommission für die Aufnahmezentren bestätigt hat, dass die Gelder für die Minderjährigen und für die SPRAR* da sind und den Kommunen und Präfekturen regelmäßig gegeben werden. Also fragen wir uns, wer spielt da ein schmutziges Spiel?
Der Präfekt von Agrigent, der sich schon auf das heiße Eisen des Hotspots von Contrada Imbriacola einlassen musste, wird genau prüfen müssen, welche Antworten er den Migrant*innen und den Betreibern der Zentren geben kann. Diese (heute waren 300 auf dem Platz) haben ihm das Versprechen für ein Treffen am 18. Mai abgetrotzt, letztes Datum vor der Entlassung der unbegleiteten Minderjährigen aus den Zentren und der folgenden Schließung der Einrichtungen.
In unserer Rechtsprechung ist die Vernachlässigung Minderjähriger eine Straftat; verschlimmert wird die Situation noch dadurch, dass keine Tutoren für die Minderjährigen ernannt werden. Das sind Straftaten, die aber fast immer unbestraft bleiben.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CIE – Centro per identificazione e espulsione: Zentrum für Identifikation und Ausweisung
*SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber