Lampedusa: Insel oder Versuchslabor?
Seit jeher ist der „Süden“ das Zentrum von Experimenten für die westliche Welt. Wieder werden die Insel Lampedusa und ihre Bewohner von europäischen Machthabern „benutzt“, um mit neuen Reglementierungen in Sachen Migration zu experimentieren. Und wieder müssen die Bewohner die Fehler dieses Systems ertragen. Zu Zeiten der Hotspots, der Verteilung von Menschen, müssen sie imstande sein, Solidarität zu zeigen und Aufnahmekapazitäten zu erweitern.
Vielleicht ist das diesmal nicht ausreichend, vielleicht muss erst ein weiteres Jahr wie 2011 verstreichen, um den Politikern klarzumachen, dass diese Hotspots eine tickende Zeitbombe sind. Vor allem auf einer Insel, für die die Verbindung zum Festland im Winter schwierig ist. Wir fragen uns: Wie werden sie überführt, aufgeteilt, getrennt und in Asylbewerber oder Wirtschaftsflüchtlinge unterteilt?
Europa will immer mehr zu einer Festung werden, ein System von Mauern auf die Beine stellen. Bausteine, die nur erneut zu Freiheitsentzug führen, ohne jeglichen Zugang zu Rechtsberatung.
Mit der Transformation des CPSA* im Viertel Imbriacola vor etwa einem Monat ist Lampedusa nun als erster italienischer Hotspot völlig in das System eingetreten.
In der Praxis sollten an diesem Ort schon vorher die Möglichkeiten der Asylsuchenden untersucht werden (um in Europa nach dem System der fiktiven Aufgliederung nach Quoten verteilt zu werden) und Wirtschaftsflüchtlinge sollen auch von diesem Ort aus abgeschoben werden (oder ins CIE* gebracht werden), und das innerhalb von 72 Stunden!
Was ist die juristische Grundlage dieser neuen europäischen Verbrechen? In Italien dauert es mindestens 2 Jahre, bis man sich entschieden hat, ob die Person das Recht auf internationalen Schutz bekommt, und nun soll man es in 72 Stunden schaffen?
So viele Fragen ohne Antworten und so viel Durcheinander auch für die institutionellen Akteure, besonders Ordnungsamt und Polizei, die keine klare Vorgehensweise zeigen, was vermutlich an den erlebten Spannungen der vergangenen Tage innerhalb des Hotspots von Lampedusa liegt.
Vor nicht einmal 10 Tagen sind die in der Unterkunft der Insel eingesperrten Flüchtlinge, hauptsächlich Eritreer, die sich weigerten, ihre Fingerabdrücke abzugeben, losgezogen, um mitten auf der Via Roma zu protestieren, mit auf Bettlaken geschriebenen Forderungen und nach „Freiheit“ rufend.
Auch in den folgenden Tagen finden wieder Proteste statt, in deren Verlauf die Hauptfiguren verzweifelt darum betteln, die Insel verlassen zu dürfen.
Schließlich dann die Entscheidung, sie gehen zu lassen. Und am Morgen der Abreise, niemand weiß aus welchem Grund, stürmten dann circa 20 Eritreer aus dem Lager zum Hafen, überzeugt davon, dass nicht alle abreisen dürften. Also warfen sich einige von ihnen ins Meer, mit der Absicht das Fährschiff von Porte Empedocle nicht wegfahren zu lassen. Momente atemloser Spannung beim Einschreiten der Tauchergruppen, die wieder einmal Menschen vor der gierigen See retten.
Letztendlich wurden dann letzten Donnerstag etwa 120 bis 130 Personen mit der Linienfähre in das Aufnahmelager von Siculiana, Villa Sikania, gebracht, das vermutlich als nächstes mit der Transformation zum Hotspot dran ist.
Die Proteste in der Gegend von Imbriacola, wo letzte Woche erst etwa 50 Marokkaner einen Hungerstreik begonnen hatten, sind noch nicht vorbei. Höchstwahrscheinlich werden sie nicht die gleiche Behandlung wie die Eritreer bekommen.
Wir werden auch weiterhin aufmerksam die Abläufe und Entwicklungen des insularen Hotspots verfolgen, die wahrscheinlich auch einen Ausbau des Flughafens beinhalten, um Abschiebungen direkt von Lampedusa aus durchführen zu können.
All das ist ein Experiment, dessen Ergebnis sich zeigen wird, sobald die Flüchtlinge einmal in Villa Sikania angekommen sind. Etwa 15 wurden schon in Lampedusa (unter den aufmerksamen Blicken der europäischen Beamten) identifiziert, doch einmal im Aufnahmelager in Siculiana angekommen, sind sie entkommen. Das lässt uns in dem Glauben, dass dort niemand die neuen Reglementierungen erläutert bekommen hat, nämlich dass sie wieder in anderen Mitgliedstaaten untergebracht werden sollen, da sie in das europäische Quotenregister passten.
Aber das Chaos und die diskriminierende europäische Politik wurden durch noch einen schrecklichen Vorfall von vor einigen Monaten bestätigt, der sich mit einer bestimmten Häufigkeit wiederholt. Und das nicht nur in Agrigento: am vergangenen 5. Oktober wurden 12 von 109 Geflüchteten von Lampedusa (wo sie am 27. September ankamen) nach Villa Sikania gebracht, wo sie dann einfach auf die Straße gesetzt wurden, mit einer Verfügung über eine obligatorische Abschiebung. Höchstwahrscheinlich haben diese Flüchtlinge ihr Unglück „bezahlt“, keinen Platz im italienischen Aufnahmesystem gefunden zu haben, welches heute dank der Mafia Capitale große Mängel an Notfallposten aufweist!
Ein Europa, das keine Ahnung von der Aufnahme hat, ein Italien, das nur das große Geschäft sucht: Menschen, die vor einem nicht mehr lebenswerten Leben fliehen und eingesperrt werden, zurückgewiesen, mitten auf der Straße gelassen, denken, dass ihre Probleme so gelöst werden. Aber man ist immer noch dabei, die Techniken zu verbessern: wir sind in einem Labor und in Lampedusa sind wir noch mitten im Experiment.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus
*CPSA: centro di primo soccorso e accoglienza- Erstaufnahmelager
** CIE: Centro di Identificazione ed Espulsione – Zentrum für Identifikation und Abschiebung, Abschiebehaft
Aus dem Italienischen übersetzt von Lara Simon