Die Geschichte wiederholt sich: Tag der Erinnerung auf Lampedusa
Vor drei Tagen wurde auf Lampedusa der Tag der Erinnerung begangen. Vielerorts waren Parolen von Politiker*innen zu lesen, die Hoffnung und Erneuerung ausdrücken wollten. Für uns bleiben diese Worte bedeutungslos, denn selbst während der Gedenkzeremonien schreitet der Massenmord an den Migrant*innen leise und heimtückisch voran.
Einige finden, dass die Erinnerung nicht zelebriert werden soll. Sie sollte vielmehr im Alltag Platz finden, denn nur so könnte sie diese Geschichte verändern, unsere Geschichte, die Geschichte der Gegenwart. Leider wird Geschichte immer von den Mächtigen geschrieben und so wird sie auch jetzt in einer falschen, geschönten Version wiedergegeben. Auf diese Weise bleiben alle Fakten verborgen, die das Gewissen wecken könnten. Mit dem stillen Einverständnis von Medien und Presse wird somit all das, was wirklich passiert ist, vergessen und wir können weitermachen, mit anderen Darsteller*innen, mit anderen Opfern, mit wiederholter Scham im Namen des Machthungers und der Geldgier.
Auf diese Weise erklären sich weitere Tragödien auf See, denen Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fallen, die Massengräber in der Wüste und die Gewalt in Libyen. Auf diese Weise erklärt sich, warum die Drecksarbeit in Libyen und in der Türkei angeordnet und mit Waffen unterstützt wurde. Nur so erklärt sich, die ohrenbetäubende Stille über die Brutalität gegenüber Palästinenser*innen und Kurd*innen und die ausbleibenden Nachrichten über die nicht endenden Kriege in Syrien, im Kongo und in anderen Gegenden Afrikas. So erklärt sich, dass tausende Frauen und Männer auf unseren Feldern und Straßen alleingelassen und ausgenutzt werden, der Gewahrsam an „Un-Orten“, sowie die Verbannung hinter Stacheldraht und Mauern, die nicht nur physisch unüberwindbar sind.
Während der „Tage der Erinnerung“ protestieren einige Tunesier*innen in einem Hotspot auf Lampedusa. Sie haben sich die Lippen zusammengenäht. Auf diese Weise protestieren sie dagegen, dass sie über zu lange Zeit in einem nicht zumutbaren Zentrum / Gefängnis festgehalten werden, wie es der Bürge der Geflüchteten nach seinem Besuch im Hotspot erklärt.
Ein Gefängnis unter freiem Himmel, indem du nachts jederzeit von der Polizei geweckt werden kannst. Dann stecken sie dich in einen Bus und bringen dich dorthin zurück, woher du, weil dort Gewalt und Unfreiheit, vor allem für Arme herrschen, geflüchtet bist.
„Auch ein Jahr nach meinem letzten Besuch hat sich nichts verändert,“ klagt der Bürge. Es ist dieser Situation zuzuschreiben, dass sich hier vor einigen Wochen ein Tunesier das Leben genommen hat.
Mehrere Faktoren sind dafür verantwortlich, es beginnt mit der Entstellung des Phänomens durch die Notstandspolitik, geht weiter mit der Unfähigkeit zum Zuhören und dem Umgang aller, die in der Gegend arbeiten, auch den Teilen der dafür sensibilisierten Lokalbevölkerung, damit.
Die Tunesier*innen auf Lampedusa sind seit Wochen eingesperrt. Seit Monaten leben sie in einem Zentrum mit türkischen Toiletten ohne Türen. Die Matratzen sind, laut Aussage des Bürgen, so schmutzig, dass sich keiner von uns darauf legen würde. Es gibt keinen Platz für die Essensausgabe, deshalb wird stehend im Hof gegessen, auch bei Regen.
Menschen, die auf dem Meer ihr Leben riskieren, werden dann auf unbestimmte Zeit und ohne jedes Recht eingesperrt. Unter diesen Umständen, können selbst die stabilsten Personen durchdrehen.
So lautet die Anklage des Bürgen der „Gefangenen“, am Tag nach seinem Besuch auf Lampedusa. Auf Grund dieser Zustände steht Streit auf der Tagesordnung, sowie die anhaltenden Proteste und nicht enden wollenden Fluchtversuche. Trotz der zahlreichen Anzeigen, nicht nur der Behörden sondern auch von Seiten der Zivilgesellschaft, die bei den Entscheidungsprozessen nicht mit einbezogen wird, wird eine falsche Geschichte erzählt. Man sagt, dass die Tunesier*innen keinen Schutz verdienen, dass sie gewalttätig und betrügerisch seien, dass wir es sind, die sich schützen müssen, dass unsere Sicherheit gefährdet ist und nicht die Sicherheit jener Personen, die wir einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung unterziehen und die wir demütigen.
Um nicht den Massenrückführungen zum Opfer zu fallen, welche auf Grund der bilateralen Verträge zwischen der italienischen und der tunesischen Regierung immer montags und donnerstags durchgeführt werden, protestieren die Tunesier*innen leise und im Willen die Inselbewohner, die sie aufgenommen haben, zu respektieren, in dem sie sich die Lippen zusammen nähen. Dieser Streik dauert seit sechs Tagen an und die jungen Männer und Frauen werden allen voran vom Pfarrer und dem Forum von Lampedusa psychologisch unterstützt. Sie fordern lediglich den Respekt ihrer Rechte, Bewegungsfreiheit und würdevolle Umstände.
Wieder einmal, wie es uns die Geschichte, die wahre, lehrt, geben uns die Bewohner*innen von Lampedusa die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. Die Menschen auf Lampedusa sind hilfsbereit und gastfreundlich, bei ihnen steht die Menschlichkeit an erster Stelle. Eine Menschlichkeit der einfachen Gesten: Beistand, ein Bad in der Pfarrei, eine Decke gegen die Kälte, ein offenes Ohr. Die Bewohner*innen von Lampedusa lehren uns, dass unabhängig von der geografischen Herkunft jedem die Würde gehört menschlich behandelt zu werden, unabhängig von seinem juristischen Status. Die Genfer Konvention scheint unterdessen Altpapier geworden zu sein. Abgeändert in ein Recht für privilegierte Migrant*innen, eine Kategorie in die die tunesische Staatsbürger*innen nicht zu fallen scheinen. Deshalb protestieren sie, deshalb die zusammengenähten Münder. Der Wunsch einen Verwandten in Italien oder Europa zu erreichen übersteigt die Angst vor dem Tod auf See.
Die letzten Todesmeldungen sind gerade einmal einige Tage alt: Männliche Leiche am Strand von Torresalsa* aufgefunden. Das Opfer befand sich auf einem der Boote, die selbst die Frontexmauer überwunden haben. Andere Tunesier*innen, welche die Überfahrt über das Mittelmeer überlebt haben, schafften es zu Fuß in die Provinz Ragusa. Eine Frau in schlechter gesundheitlicher Verfassung, sowie ein verletzter Mann präsentierten sich im Polizeipräsidium für ihr Ansuchen auf Internationalen Schutz. Beide haben aber einen Ausweisungsbescheid erhalten. Die Frau wurde unmittelbar darauf in das Zentrum für den Aufenthalt bis zur Rückführung, Ponte Galeria, nach Rom gebracht. Der Mann schaffte es, dank seiner guten Vernetzung, einen Asylantrag zu stellen und somit seine Abschiebung anzufechten.
Eine erneute Nacht der Proteste, der zugenähten Münder und Hungerstreiks zeigen uns, dass sich die Dinge ändern müssen und, dass sich die Geschichte nicht wiederholen darf. Viele Organisationen und Einzelpersonen haben es bereits verstanden, deshalb unterstützen sie jene, die entlang der Küste der sizilianischen Inseln ankommen.
Die Erinnerung soll jeden Tag begangen werden, um im Respekt für das Leben von tausenden Personen, die heute und in der Vergangenheit unter der totalen Gleichgültigkeit der „Zivilgesellschaft“ gestorben sind, zu leben und zu handeln.
Alberto Biondo
Borderline Sizilien
*Torre Salsa, Naturschutzgebiet an der Westküste Siziliens
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner