Geschichten aus Siculiana: Licht und Schatten der Aufnahme im Zentrum für Erstaufnahme „Villa Sikania“*
„Zeit existiert hier nicht.
Man verbringt die Tage mit essen, schlafen und warten; mit der Zeit ist es, als
ob es sie gar nicht gäbe.“ Das sind die Worte von A., einem sehr jungen
Afrikaner, der uns sagt, dass er gerade am Tag zuvor 18 Jahre alt geworden sei.
Wir beglückwünschen ihn mit Verspätung, er lächelt, aber sofort verdunkelt sich
sein Blick von neuem. Sein Freund B. hat ein weißes Pflaster in der rechten
Armbeuge. „Ich war krank, sie mussten mich vor ein paar Tagen ins Krankenhaus
bringen. Hier (ndr, in der Villa Sikania) geben sie keine Medizin aus,
überhaupt keine.“ Wir wissen aber, dass es in der Einrichtung eine
Krankenschwester gibt. Es gelingt uns nicht, genau zu verstehen, woran B.
leidet. Fakt ist, dass ihn ein Mitarbeiter ins Krankenhaus begleitet hat, wo er
behandelt wurde.
Wir haben ihn zwei Tage
später wiedergesehen. Er hatte schon eine gesündere Gesichtsfarbe und er bestätigte
uns, dass es ihm besser gehe. Wir entdecken, dass A. und B. zwei ehemalige
Gäste eines der Aufnahmezentren sind, die von der Organisation „Omnia Academy“
verwaltet wurde. Diese Einrichtung hat vor einigen Monaten die Tore geschlossen;
sie wurden beschuldigt, eine kriminelle Vereinigung zu sein, zielgerichtet auf
falsche Angaben und Betrug. Statt in andere CAS der Gegend verlegt zu werden,
sind die Gäste „zurückgestuft“, buchstäblich in der Villa Sikania in Siculiana
geparkt worden, eine Einrichtung für die allererste Aufnahme und Unterbringung
derjenigen, die von Lampedusa kommen. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung wohnten
die Jugendlichen seit zwei Wochen in der Villa Sikania, und hingen in der Luft.
„Fast jeden Abend kommen andere Migranten an, aber spätestens ein oder zwei
Tage später werden sie woandershin verlegt. Die einzigen, die im Zentrum
bleiben, sind wir, diejenigen von Naro. Ein wirklich schlechtes Zentrum, zum
Glück gibt es das nicht mehr. Jetzt sind wir hier; jeden Tag sagen sie uns: Warten,
warten, immer warten. Wir wissen weder, wo wir am Ende landen werden noch wann
das sein wird.“
Wir haben keine Gewissheit
über das genaue Alter der Jugendlichen und es ist schwer, es zu schätzen. Viele
scheinen aber wirklich sehr jung zu sein, jünger als 18 Jahre. Aber wir möchten
denken, dass sie volljährig sind und dass sie aus dem CAS von Omnia kommen und
dass sie nicht durch die Maschen der Aufnahme geschlüpft sind, die den
Minderjährigen zugedacht ist; auch, wenn die Aussage von A., der uns erzählt
hat, dass er während seines Aufenthaltes in der Villa Sikania volljährig
geworden sei, anderes vermuten lässt. Wenn es tatsächlich minderjährige
unbegleitete Flüchtlinge handelt, wäre das im Hinblick auf die Aufnahme der
Minderjährigen und im Blick auf ihre Rechte die zigste schwere Beleidigung,
wenn nicht gar eine Bankrotterklärung.
Die Hauptprobleme, von denen
uns die Gäste berichten, scheinen das Essen (dürftig, eintönig und von
schlechter Qualität) und der Dreck in den Zimmern, besonders in den Bädern zu
sein, den sie mit einem angewiderten „pfui!“ kommentieren. Die Zimmer enthalten
bis zu drei Stockbetten, haben folglich eine Aufnahmekapazität für maximal sechs
Personen. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung sind uns keine Fälle von Überbelegung
berichtet worden, auch wenn andere Migranten von ungeheuren Zahlen wie „400,
500, 1000“ Personen sprechen, die im ehemaligen Empfangssaal der Einrichtung
zusammengepfercht seien.
Die Geschwindigkeit im Wechsel
der Gäste in der Villa Sikania ist augenfällig: An einem Tag sieht man gut
hundert Jugendliche aus Subsahara-Afrika auf dem Sportplatz hinter dem Zentrum
mit Jugendlichen aus Siculiana Ball spielen; tags drauf ist alles menschenleer,
die Fensterläden sind geschlossen, der Parkplatz vor dem Eingang ist halbleer.
Wieder einen Tag später sieht man neue Gesichter Richtung Zentrum ziehen, am
nächsten Morgen erblickt man zwei, drei, vier Autobusse mit laufendem Motor und
Menschen, die entlang des Weges rund um die Einrichtung sitzen, mit ihren
wenigen Habseligkeiten in der Hand, die darauf warten einzusteigen und in den
Norden verbracht zu werden. Verschiedene Quellen haben uns bestätigt, dass die
Verlegungen von Lampedusa, vom CSPA der Casa da Imbriacola, nach Porto
Empedocle (AG) jeweils in Gruppen von 100, höchstens 200 Personen stattfinden, fast
täglich mit der Linienfähre, außer samstags. Der größte Teil sind Männer, aber
immer öfter auch Frauen, Kinder und ganze Familien.
Die Jugendlichen kommen vor
allem aus Nigeria, Gambia, Mali, Senegal. Sehr viele Eritreer, die wir oft an
der Hauptstraße von Siculiana vor den Telefonzellen sitzend antreffen. Es sind
auch einige Männer aus Bangladesch da. Was in der Villa Sikania einigermaßen
gut zu funktionieren scheint, ist die Kommunikation zwischen Mitarbeitern und
Gästen, die durch tüchtige Mediatoren ermöglicht wird. Wegweisend auch ein
Treffen mit zwei eritreischen Jugendlichen, Opfer des unmenschlichen
Dublin-Abkommens. Seit 4 Jahren in Europa, sind sie zwischen England und Norwegen
gereist, um dann nach Italien zurückgeschickt zu werden; das hat ihnen zum
Ausruhen nichts anderes anzubieten als dreckige Straßen und harte Bänke.
„Auf der einen Seite machen
mich diese Jugendlichen traurig“, sagt uns plötzlich ein Mann mittleren Alters,
mit dem wir uns zwanglos unterhalten. „ Auf der anderen Seite kann man den
armen Italienern nicht Unrecht geben, denen das Geld nicht bis zum Monatsende reicht
und die sich über sie ärgern. Am Ende erhält ein Migrant 35€ pro Tag, rechnet
ihr nach… 1050€ im Monat, selbstverständlich plus Verpflegung und Unterkunft.“ Kurz
zusammengefasst: Es ist nicht gerecht, dass die Migranten mit unseren öffentlichen
Geldern unterhalten werden, während die armen und „bemitleidenswerten“ Italiener,
die es nicht bis zum Monatsende schaffen,
sich selbst überlassen werden. Dies ist der zigste fürchterliche Beweis
dafür, dass die Salvinianische Rhetorik* (und nicht allein sie) Wurzeln schlägt,
ohne dass jemals vorher recherchiert worden wäre. Also erklären wir ihm, dass die
Betreibergesellschaft eines Zentrums die 35€ pro Tag und Person für die Aufnahme / Versorgung der
Migranten erhält und dass die Migranten höchsten 2,50€ am Tag erhalten (das macht
pro Monat 75€ und nicht 1050€!). Vorausgesetzt, dass sie überhaupt versorgt
werden; wir haben zu oft festgestellt, dass die Betreiber sich nicht die Mühe
machen, das zu tun! „Ach, das wusste ich nicht; das ist nicht das, was in den
Fernsehnachrichten gesagt wird!“ Leider stellt die Verbreitung von falschen
Informationen durch die Medien zum Zweck der Propaganda und des Rassismus ein
großes Problem dar für die korrekte Einordnung, das Verständnis und die
Toleranz gegenüber dem Phänomen der Migration durch den durchschnittlichen Bürger.
Während unseres Aufenthaltes
in Siculania treffen wir auch C., einen Jugendlichen aus dem Sudan, der sehr
jung aussieht. Mit einigen englischen und arabischen Worten erzählt er uns,
dass er alleine von zuhause aufgebrochen sei. Er sei in Lampedusa angelandet,
wo er einige Tage verbracht habe, bevor er vor kurzem gemeinsam mit einigen
seiner sudanesischen Reisegefährten nach Porto Empedocle verlegt wurde, und folglich
in die Villa Sikania. Seine Reisegefährten sind schon woanders hin verlegt
worden, während er, so sagen man es ihm in der Aufnahmeeinrichtung, „in Kürze“
nach Mailand verlegt würde. Er möchte zu seinem Bruder in London. „Hier
Mailand. Mailand, Frankreich, Calais, England“, sagt er uns, eine Art
Erklärung. Wir müssen an die Bilder aus den Fernsehnachrichten denken, an die
Barrikaden, an die Menschen auf den Lastwagen, an die Worte David Cameron’s.
Uns zieht sich der Magen zusammen, aber wir sagen nichts. Er sieht uns mit
diesem entspannten und offenen Gesicht an, diesen lebhaften Augen, manchmal ein
wenig traurig, aber jetzt voll Leben und Hoffnung in Gedanken an seinen Bruder.
Wir hatten ihm sagen wollen, dass es gefährlich ist, ihn fragen wollen, ob er sich
sicher sei, ob es nicht vielleicht eine andere Möglichkeit gäbe. Aber dann
denken wir noch einmal darüber nach. Dieser Jugendliche hat die Wüste durchquert,
hat die libyschen Gefängnisse überlebt, wo ihm sein ganzes Geld geklaut wurde,
und hat es geschafft, heil in Italien anzukommen. Es gibt keine Gefahr, die
Menschen wie er jetzt noch fürchten. Zwei Tage später wird er verlegt, und wie
für alle anderen beten wir, dass es ihm gelingt, sein Ziel zu erreichen.
Caterina Bottinelli
Borderline Sicilia Onlus
*Villa Sikania, ein
ehemaliges Hotel
*Rhetorik des Matteo
Salvini, Europaabgeordneter und Sekretär der Lega Nord
(Z.B. fragt er die
Befürworter der Migration: „Wie viele Migranten nimmst Du mit nach Hause?“ Die
Gegenfrage bleibt unbeantwortet: „Und Du, wie viele Italiener in
Schwierigkeiten nimmst Du mit nach Hause?“)
Quelle: https://luciogiordano.wordpress.com/2015/06/20/la-retorica-salviniana-una-domanda-per-ogni-occasione/
Aus dem Italienischen von
Rainer Grüber