Ein Abend auf der Piazza von Lampedusa
Es ist 19 Uhr, eine Menge junger Männer und Frauen aus Eritrea sitzt stumm und geordnet auf den Stufen der Kirche. Sie halten in ihren Händen Plakate, auf denen steht „Wir sind Geflüchtete“ „Keine Fingerabdrücke“, wegen der Kälte sind sie eng aneinander gerückt.
Ich überquere mit meinen Einkaufstüten den Platz und mache vor ihnen Halt, um zu verstehen, worum es geht.
Sie sind seit Anfang Dezember hier, eine Gruppe von 200 Eritreer*innen. Sie weigern sich, ihre Fingerabdrücke abzugeben, denn sie haben das Recht, auch in einem anderen Land als Italien Asyl zu beantragen. In Italien müssen sie jedoch bleiben, wenn sie ihre Abdrücke hier in Lampedusa, dem ersten „Hotspot“ Italiens gegeben haben. Sie sind keine bedrohliche Menge. Sie haben einen offenen Blick, sie sprechen nicht einmal miteinander, aber als ich mit einem Lächeln auf sie zugehe, erwidern sie es. Sie sind auf der Flucht vor einem verbrecherischen Regime eines Landes, das sie zu unbegrenztem Wehrdienst verpflichtet, in dem die Presse monopolisiert ist, in dem 33% der Bevölkerung Analphabeten sind, in dem es Folterungen gibt. Ich würde fliehen, denke ich. Dann kommt ein Mann, sogar eine Gruppe von Männern drohend auf mich zu, sie fragen nach meinen Personalien, sagen, sie wären von der Polizei, aber keiner zeigt mir einen Ausweis. Die anderen Leute gehen gleichgültig vor der Kirche vorbei, die Misericordie* von Lampedusa, die ihre Räume gegenüber der Kirche haben, beobachten alles bis 20 Uhr, dann machen sie ihren eisernen Rolladen runter, wie ein Kleiderladen. Keine Decke, keine Tasse Tee, kein Lächeln. Ich habe in den letzten Monaten am Landesteg gearbeitet. Ich frage mich, warum dort Hunderte von Männern und Frauen – alle ein Ausbund an Menschlichkeit und Barmherzigkeit – unter den Augen der Presse kostenlos Hilfe leisten, es ist dort ein Kommen und Gehen von Persönlichkeiten der verschiedensten Einrichtungen, die Schilder halten, die sich auf der Mole gut ausnehmen, und mit bühnenwirksamen Auftritten in den TV-Abendnachrichten. Ich frage mich, wo sie jetzt alle sind. Sind die Leute auf den Stufen hier nicht auch Menschen? Sind sie nicht seit 1 Monat hier auf der Insel an Land gebracht und dann festgehalten worden? Erbitten sie nicht Hilfe? Antworten? Oder endet die Flucht an der Mole und man strandet hier auf dieser gottverlassenen Insel, die die Grenzen Europas bedeutet? Europa, wo alles möglich ist, wenngleich vom Pfarrer die Papiere verlangt werden, als er die Kirchentreppe herunterkommt, um auch zu helfen, zusammen mit einer kleinen Gruppe von Leuten, die die Bäcker bei Ladenschluss gebeten haben, das übrig gebliebene Brot zu spenden. Hier wird heute abend niemand auf einem Titelblatt zu sehen sein – nur unsere Würde als Männer und Frauen, unsere Würde, die mit Füßen getreten wird, wie die Freiheit und die Demokratie; nur die Zukunft unsrer Kinder, eine dunkle Zukunft, in der Gesetze gelten, die andere, vorausgehende als zeitweilige Richtlinie oder Anfänge abtun – und die Allgemeinen Menschenrechte – so scheint es – sind total in Vergessenheit geraten. Die Nacht ist lang. Heute Abend ist das Fernsehen nicht da …….
Zeugnis von Mariangela Orlando
*Misericordie: Der Verbund der „Misericordie“ besteht aus Hunderten von Bruderschaften in Italien, sie leisten z.B. Krankentransporte oder arbeiten im Zivilschutz. Sie leiten aber auch Flüchtlingszentren, so auch über Jahre das von Lampedusa, was nicht unkritisch gesehen wird.
Übersetzung aus dem Italienischen von Petra Schneider