Die Stimmen der Abgeschobenen, zwischen tötenden Mauern und Gleichgültigkeit
In diesen schwülen Augusttagen lesen wir verschiedene Geschichten über Gewalt an Migrant*innen. Vom Politiker, der Verordnungen erfindet um die Solidarität gegenüber einem um Essen bettelnden, Migranten zu verbieten; über die Jugendlichen, die beim Versuch ihre Eltern zu erreichen sterben, weil sie von einer gleichgültigen Gesellschaft erdrückt werden; bis hin zu niederträchtigen Strafverlegungen gegen Migrant*innen, die die Landschaft vieler italienischer Städte bevölkern. Das Klima das wir erleben ist das Ergebnis eines zunehmenden institutionellen Rassismus. Dieser schafft und legitimiert eine Gewalt, die Mauern errichtet und, vor allem, tötet. Aus diesen Gründen spült das Meer weiterhin Leichen an, die letzten fünf am vergangenen 21. August.
Man fragt sich, ob sich irgendwann irgendwer für diese Morde verantwortlich zeigt, wenn das Leben eines achtjährigen syrischen Kindes oder einer 16-jährigen Nigerianerin weniger wert ist als das Leben unseres Sohnes. Es ist offensichtlich, dass ein Migrant*innenleben für viele Politiker*innen und Politisierende nichts zählt. Nur so lässt sich die große Unfähigkeit, einem unabwendbaren und unvermeidbaren Phänomen ins Auge zu blicken, in einem Wort erklären. Trotzdem wollen wir die Wirklichkeit nicht sehen, nicht akzeptieren. Wir verteidigen uns mit Gleichgültigkeit, die auch in Zeitungen und den Fernsehmedien grassiert, diese beinhalten keine Nachrichten der anhaltenden Tragödien, die sich im Namen der Demokratie und der Sicherheit ereignen.
Gleichgültigkeit und Angst bewirken Abschiebungen. Vor allem Ägypter*innen und Marokkaner*innen werden von Trapani und Agrigento in ihre Ursprungsländer zurückgewiesen. Da in den Identifikations- und Abschiebezentren nicht genügend freie Plätze sind, hat die Polizei wieder damit angefangen die berüchtigten „seven days“-Abschiebungen auszustellen. Seit rund zwei Monaten kommt es wieder vor, dass man mitten in der Nacht verlassene Personen auf den Hafenbänken von Porto Empedocle oder im Stadtzentrum von Agrigento findet, außerhalb der Amtsgebäude. Es gibt Migrant*innen, die nach Wochen oder Monaten auf Lampedusa von der Polizei nach Sizilien übergesetzt und dann auf der Straße gelassen werden. Sie verbringen eine Nacht im Freien, um am nächsten Tag den Bus nach Catania oder Palermo zu nehmen, dort suchen sie sich dann eine vorübergehende Unterkunft. Jene, auf die wir auf den Straßen gestoßen sind, haben jegliche Form der Unterstützung abgelehnt, selbst eine Flasche Wasser. Nach allem was sie bisher vom italienischen Aufnahmesystem gesehen haben, der psychologische Druck, die Vernachlässigungen und die Abweisungen, sind sie eingeschüchtert.
„Ihr Italiener*innen kommt zu uns um Urlaub zu machen, ihr nehmt euch das Wenige das uns bleibt und ihr treibt uns in die Hände der schrecklichsten Menschen. Die ohne Skrupel vergewaltigen, foltern und töten. Wenn es aber auch nur einer von uns schafft zu euch zu kommen, behandelt ihr uns schlechter als Hunde und Katzen, denn denen gebt ihr Geborgenheit und Halt. Wir sind mehr wert als Tiere, wir sind Menschen. Seit ich in Italien bin, habe ich auf Lampedusa für zwei Nächte in nassen Kleidern geschlafen. Dann habt ihr mich wie den schlimmsten räudigen Hund zum Fährhafen geprügelt, auf dem nassen und dreckigen Boden. Stundenlang habe ich Treibstoffdämpfe eingeatmet, um mir schlussendlich, begleitet von einer Schar Soldaten, ein Blatt Papier geben zu lassen, das mir die Rückkehr nach Hause befiehlt. Ihr habt mich ohne jegliche Anweisung auf der Straße gelassen. Die Leute schauen uns missachtend an und nähern sich nicht einmal, sie flüchten fast vor uns, als hätten wir Ebola.“
Das erzählte uns der junge Marokkaner M. während eines Gefühlsausbruchs. Wir haben ihn zufällig am Bahnhof von Palermo getroffen, nachdem er unter der totalen Gleichgültigkeit der Institutionen und der Politik allein gelassen wurde. In der Illusion, dass er nach Rom gehen würde, um dort in ein Flugzeug zu steigen und in sein Heimatland zurückkehren würde. Seine Reisegefährt*nnen wurden hingegen nach Kairo und nach Tunesien abgeschoben, in den Flugzeugen, die regelmäßig für Zwangsrückführungen eingesetzt werden.
Das gleiche Schicksal ereilte die jungen Menschen verschiedener Nationalitäten, die unter Zwang und Gewalt von Ventimiglia in den Hotspot von Trapani gebracht wurden. Von der letzten Gruppe, es waren rund 50 Personen, wurden die Ägypter*innen, Marokkaner*innen und Tunesier*innen abgeschoben, einzig die Kurd*innen und Sudanes*innen wurden in einem Aufnahmezentrum untergebracht.
Die Lage auf Lampedusa bleibt schwerwiegend. Wegen der Überbelegung und dem totalen Durcheinander, dem die Personen hier über Wochen überlassen werden, steht das Aufnahmezentrum vor dem Kollaps. Im Hotspot der Insel wird die ständige Anwesenheit von Minderjährigen registriert. Jetzt, an den Sommerabenden entfernen sie sich manchmal von der Einrichtung (es ist bekannt, dass die Umzäunung eine Öffnung hat), um im Durcheinander der Tourist*innen zu spazieren. Die Ägypter*innen, die letzthin von Lampedusa weggebracht wurden, erwarteten andere Schicksale. Einige wurden abgeschoben, während andere abgewiesen und allein gelassen wurden. Vor zwei Tagen folgte die Nachricht, dass im Rahmen der Feierlichkeiten zu San Bartolo in einem der Schlafsäle ein Feuer ausgebrochen war.
Auch wer es schafft den Kanal der Schlepper zu umgehen und eine eigene Überfahrt organisiert, wird abgefangen und zurückgeschickt. Die Nordafrikaner*innen, vor allem die Tunesier*innen die auf Pantelleria, Favignana und entlang der Küste von Mazaro angekommen sind, wurden von Palermo per Flieger abgeschoben. Wir kennen das Schicksal dieser jungen Menschen, nachdem sie wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, nicht. Zeugenaussagen wie jene des Nigerianers J., der sich seit rund einem Monat wieder in Lagos befindet, lassen es erahnen.
J. hat uns kontaktiert und um Hilfe gebeten. Mit zitternder Stimme hat er uns von seiner Hin- und Rückreise erzählt, die vor mehr als einem Jahr im Norden Nigerias begonnen hat. Er hat die Wüste, die Schlepper, den Schmerz Freunde auf der Straße sterben zu sehen und die Gefräßigkeit des Meeres überlebt. Doch vor den Mauern der europäischen Politik wurde er zurückgeschickt, nachdem er Lampedusa, Catania und schlussendlich Rom passierte. In der Hauptstadt wurde er wie ein Tier in ein Flugzeug geladen und nach Nigeria geflogen.
„Ich leide schrecklich, mein Leben hat keinen Sinn mehr. Helft mir, ich habe dieses Dokument in der Hand. Keiner hat mir gesagt was mit meinem Leben passiert. Sie haben mich gepackt und in ein Flugzeug gesteckt. Ich wurde wie ein Terrorist behandelt und hier in Lagos allein gelassen. Ich weiß nicht wo ich schlafen soll, denn nach Hause zurückkehren kann ich nicht. Besser meine Familie denkt ich wäre gestorben. Ich habe nichts mehr, sogar meine Seele haben sie mir genommen. Bitte helft mir.“
Von Nigeria aus einen Widerspruchsantrag einzulegen ist kostspielig und braucht viel Zeit. J. hat weder das eine noch das andere. Sein Leben und das vieler anderer bedeutet nichts mehr und hat für Europa nie etwas bedeutet.
„J. es tut mir leid, wir können nichts für dich tun, Gott schütze dich.“ Das Gespräch wurde unterbrochen.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner