Die Menschlichkeit versinkt vor Lampedusa
Seit jeher benutzt die italienische Regierung die Insel Lampedusa als Experimentierfeld für die Immigrationspolitik. Seit jeher werden die Bewohner*innen Lampedusas von den Regierungen, die von Jahr zu Jahr aufeinanderfolgen, wie Laborratten gebraucht, um herauszufinden, wo die Grenze des Ertragbaren liegt.
Seit jeher wird die Insel Lampedusa, Symbol für das Thema der Immigration, ausgenutzt, um auf Europa Druck auszuüben. Nach sechs Jahren begegnen wir in Lampedusa aufs Neue der schrecklichen Protestaktion der „zugenähten Münder“. Die Tunesier protestieren damit gegen die illegalen Maßnahmen auf der Insel selbst und darüber hinaus um für die fundamentalen Freiheitsrechte aller zu kämpfen. Denn diese Tunesier werden, entgegen aller internationalen Konventionen, wie Menschen ohne Rechte behandelt, wie Verbrecher, die man entweder ausbeutet oder abschiebt.
In den letzten Tagen haben die 500 im Hotspot festgehaltenen Menschen, hauptsächlich Migrant*innen tunesischer Herkunft, begonnen gegen die inakzeptablen, unwürdigen Zustände in der nicht funktionstüchtigen Einrichtung zu protestieren. Die Proteste klagen die Behandlung an, die den Bewohner*innen des Hotspots zuteil wird und das stetige Risiko, mit einem Direktflug von Lampedusa oder von Palermo zurückgewiesen zu werden.
Eine gewaltlose, aber deutliche Protestaktion, an der mindestens 63 Tunesier teilnehmen: „Mit diesem Hungerstreik stehen wir ein für unsere Bewegungsfreiheit und gegen die gewaltsame Abschiebung aus einem Ort, der Zufluchtsstätte genannt wird und jedoch in Wahrheit ein Gefängnis ist. Weder Hunger, noch Durst, noch Übelkeit, noch Erbrechen, noch die schwierigen Bedingungen, unter denen wir hier leben, machen uns so zu schaffen wie das Schweigen über die Missachtung unserer Freiheitsrechte, über die ungerechte Politik, über die gewaltsamen Abschiebungen, nur, weil wir Tunesier*innen sind. Es ist schmerzlich Opfer der Politik zu sein und wegen dessen Gesetzen kriminalisiert zu werden. Wir setzen unseren Hungerstreik fort, obwohl einige von uns gesundheitlich angeschlagen sind und sich in ärztlicher Behandlung befinden. Dieser Hilfeschrei wendet sich an die, die uns ungerecht behandeln, an die, die uns vergessen haben, an die, die uns gezwungen haben, auf untauglichen Booten den Tod zu riskieren, an die, die internationale Konventionen missachten. Wir sind Opfer der Weltwirtschafts- und Sozialpolitik. Wir danken allen, die uns zur Seite stehen und uns unterstützen. Nein zur gewaltsamen Abschiebung! Nein zur Abschiebung aufgrund der Nationalität! Ja zur Bewegungsfreiheit!“
Das ist der Wortlaut ihres Appells vom 31. Oktober 2017.
Diese jungen Menschen verstehen genau, was geschieht und das Bewusstsein, dass sie Opfer eines unmenschlichen Systems sind, das weiterhin mordet. Viel zu viele Opfer einer mörderischen europäischen Politik, zu viele Tragödien im Mittelmeer – die Opfer sind Männer, Frauen und Kinder auf der Suche nach der Freiheit.
Die 29 Personen, welche in der Nacht vom 3. November in Lampedusa ankamen, sind halbtot einer Katastrophe entronnen. Es sind 29. 29 traumatisierte und untröstliche Menschen, die berichten, dass mindestens hundert ihrer Reisegefährten ertrunken sind und dass 12 Tote geborgen werden konnten. Unzählige Tote die verursacht werden von den Machenschaften gewissenloser Politiker*innen, die Strategien der Grenzschließung vorantreiben und Vereinbarungen mit den Schleppern treffen, zum Vorteil ihrer eigenen ökonomischen Interessen.
Die Ankommenden werden in einem Hotspot gefangen gehalten. Wenn du aus Tunesien kommst, schenkt dir niemand Gehör, niemand informiert dich über deine Rechte, du musst nur warten, bis du an der Reihe bist und hoffen, dass dann nicht gerade ein Flugzeug für die Rückführung bereitsteht. Wenn du Glück hast, schicken sie dich nach Porto Empedocle, wo du mit einem schriftlichen Ausweisungsbefehl in der Hand mittellos auf der Straße stehst, zusammen mit allen andern Illegalen im Lande.
In dieser Situation befinden sich die Tunesier*innen, die in Lampedusa demonstriert haben. Seit Samstag haben sie einen Ausreisebefehl in der Hand. Nun leben sie in der Unsichtbarkeit, illegal auf der Straße, ein idealer Ort um an Hunger und Kälte zu sterben. „Sie sollen gar nicht erst hierherkommen. Sie können froh sein, dass wir sie nicht zurückbefördern. Jetzt sollen sie sich selber helfen. So werden sie verstehen, dass sie nicht mehr kommen sollen.“ Die Aussage dieses Polizeibeamten, von dem wir die Begründung für dieses inhumane Vorgehen erhalten, entspricht der Untätigkeit der humanitären Organisationen, die sich so zu Komplizen der italienischen Regierung und deren unredlichen Übereinkommen machen. Was uns aber wirklich schockiert, ist das Schweigen der Kirche in Agrigento und der Zivilgesellschaft, die allesamt keinen Finger rühren mit der Rechtfertigung: „.. aber sie sind Tunesier*innen..“
Einige Aktivist*innen auf Lampedusa hoffen weiter auf eine gerechtere Welt und geben sich nicht geschlagen. Sie betonen: „Viele wissen nicht, dass sie den Schutzstatus beantragen können. Sie wollen in Italien bleiben, aber niemand informiert sie über das nötige Vorgehen. Das ist das Schlimmste, die Menschen aus Tunesien werden nicht gehört. Auf Lampedusa beginnen gegen 19 Uhr die Runden der Carabinieri und der Guardia di Finanza, die alle festnehmen und in den Hotspot zurückbringen. Wer mit ihnen in Kontakt ist, wird identifiziert. Das läuft so ab, vor allem seit dem Treffen zwischen dem Bürgermeister Martello und Innenminister Minniti“.
Die Menschlichkeit ist in Lampedusa verloren gegangen. Sie ist ein Opfer geworden der Sicherheitspolitik dieses Systems. Nur dank der Aktivist*innen, dank den Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit von solidarischen Menschen ist sie immer noch sichtbar.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne