Die Jagd auf die Migrant*innen ist eröffnet
Faruk, ein junger Migrant aus einem afrikanischen Land
reich an Diamantenminen, steigt zusammen mit zwei Fluchtgefährten aus dem Zug.
Ihre Augen sind traurig, geschlossen und voller Angst. Faruk hat trotz seines
jungen Alters schon viele Schicksalsschläge erlebt: die Mutter wurde in seinem
Heimatland ermordet, der jüngere Bruder konnte der Wüste und der Gewalt der
Militärs, ausgebildet von europäischen Heeren, nicht standhalten, den Vater,
zerrissen vom Schmerz über den Verlust seiner Frau und dann seines jüngsten
Sohnes, schluckte das Meer.
Faruk weint während er uns diese Geschichte erzählt. In
dieser guten halben Stunde fließen seine Tränen unaufhaltsam und es herrscht
größte Stille. Auf Lampedusa wurde Faruk auf den Arm genommen und als „Wirtschaftsflüchtling“
eingestuft. Er hatte nicht die Möglichkeit um Asyl anzusuchen, da die
italienischen Behörden im einzig funktionierenden Hotspot Italiens nicht
allen die Möglichkeit einräumen internationalen Schutz zu beantragen. Dies
geschieht nur willkürlich und auf eine absolut beschämende Art und Weise. Faruk
mag nicht mehr darüber sprechen und er mag sich auch keinem Menschen mehr
anvertrauen, denn mit nur 24 Jahren ist ihm der Tod schon zu oft begegnet. Eine
Begegnung die unauslöschliche Spuren hinterlassen hat. Man sagt, die Augen sind
der Spiegel der Seele und die Seele Faruk’s ist wahrhaftig ausgelöscht! Wir
begleiten Faruk und seine Freunde einen Happen zu Essen und besorgen ihnen ein
Dach über den Kopf zum Schlafen, doch der Ausweisungsbescheid der ihnen in
Agrigento ausgehändigt wurde, hat ihnen auch das letzte bisschen Hoffnung auf
„Leben“ genommen. Faruk lehnt die Unterstützung eines Anwalts oder einer
Anwältin ab, denn für ihn sind Italiener*innen „böse und anmaßend“. Er
entscheidet den Ausweisungsbescheid in der Tasche zu behalten und sich zu einem
neuen Ziel aufzumachen. Bevor sich Faruk von uns verabschiedet, bittet er uns
für seine Familie zu beten, besonders für seinen kleinen Bruder und er zeigt
uns ein kleines sorgfältig umhülltes Foto von ihm.
Die drei Jungen am Bahnhof sind Teil des Heeres der
Verzweifelten, geschaffen von der Polizei in Agrigento, die die Anweisungen des
Innenministeriums erfüllt, die wiederum unter europäischem Druck entstanden.
Das Resultat, in Agrigento wird weiter abgeschoben, selbst Somalier*innen und
Äthiopier*innen bis hin zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Die
Situation wird trotz des zunehmenden Drucks von mehreren Seiten aus immer schlimmer,
denn die Einrichtungen agieren als befänden sie sich in einem rechtsleeren
Raum. Ein freies Territorium, übergeben an die Festung Europas, in dem
Praktiken zum System werden, die die Menschenwürde verletzen.
Im Hotspot von Lampedusa waren in letzter Zeit bis
zu 1.200 Personen untergebracht. Sie waren gezwungen im Freien zu übernachten,
da das Lager eine maximale Aufnahmekapazität von rund 400 Plätzen misst. Wer
sich weigert seine Fingerabdrücke abzugeben wird wortwörtlich im Inneren des
Zentrums Contrada Imbriacola verlassen, in Erwartung, dass die Migrant*innen
„nachgeben“. Nach Aussagen von Bewohner*innen des Zentrums, werden jene die
sich weigern ihre Fingerabdrücke abzugeben dazu gezwungen bei den
Übersiedelungen der bereits identifizierten Migrant*innen mitzuhelfen. So
werden sie für ihre Entscheidung, sich nicht identifizieren zu lassen, von
anderen Migrant*innen ausgelacht. Jene Personen deren Herkunftsländer
bilaterale Abkommen mit Italien haben (zum Beispiel Marokko, Tunesien,
Nigeria), können sofort in ein Identifikations- und Abschiebezentrum gebracht
und von dort rückgeführt werden. Das Recht um internationalen Schutz anzufragen
wird nicht immer garantiert. Die Rechtlosigkeit auf Lampedusa ist auch für jene,
die eine Familienzusammenführung in Europa durchführen könnten, ein Problem, da
viele noch bevor sie über diese Möglichkeit informiert werden, abgeschoben
werden.
Es scheint als fänden die Verletzungen kein Ende, auch psychologische
Unterdrückung wird eingesetzt, um die Personen zu zerstören. So passierte es
auch einer achtköpfigen irakischen Familie (unter ihnen drei Frauen, eine
schwerkranke Frau und zwei Minderjährige), die eine nahe Verwandte in der
Schweiz hat, mit die sie zusammengeführt werden könnte. Da die Familie die
Information erhalten hatte, dass die Schweiz keine Umsiedlung von Migrant*innen
unterstützt, haben jedoch alle Familienmitglieder die Abnahme der
Fingerabdrücke verweigert. Sie waren für rund einen Monat, vom 5. November 2015 bis zum 10.
Dezember 2015 im Hotspot von Lampedusa, ohne dass ihre Situation
überprüft wurde. Zudem sollen die Familienmitglieder von einem dienst-habenden
Mitarbeiter, „Sheriff“, schwer beschimpft und „dazu eingeladen“ worden sein,
dorthin zurückzukehren wo sie hergekommen sind. Sobald sie nachgegeben hatten,
wurden sie sofort in ein anderes italienisches Zentrum überführt.
Mehrere Personen
haben uns berichtet, im Inneren des Hotspot keine rechtliche Beratung
über die Möglichkeiten auf Asyl erhalten zu haben, auch der Zugang zum
Asylverfahren blieb ihnen untersagt. Die nigerianischen Bewohner*innen wurden,
sobald ihr Herkunftsland festgestellt war, angewiesen ein Dokument zu
unterzeichnen dessen Inhalt sie nicht kannten und ohne eine Kopie davon zu
bekommen. Wie zu erwarten folgte für alle die Nachricht über ihre Rückführung. Des
Weiteren erwähnen die Migrant*innen, dass Personen von der Polizei angeregt
wurden, jene Personen zu benennen, die das Boot auf dem sie gereist sind,
gesteuert haben. Im Gegenzug wird ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung
versprochen.
Dieses verschlossene
Verhalten provoziert Zwischenfälle auf die die Behörden warten: so zum Beispiel
auf Lampedusa: rund 200 Eritreer, die seit Tagen im Hungerstreik waren, da sie
keine digitalen Fingerabdrücke abgeben wollten und forderten in ein anderes
Land, ihrer Wahl, zu kommen (nicht basierend auf der Verfügbarkeit der
Umverteilungsquoten), sind am Freitag auf die Straße gegangen um ihren Willen
nach Freiheit zu äußern. Denn sie fühlen sich als Gefangene einer uneinnehmbaren Festung, als Opfer eines
erbarmungslosen Systems, das jeden lieben Tag (http://siciliamigranti.blogspot.it/2015/12/eritrei-cartelli-e-slogan-lampedusa.html)
Opfer erntet und an die sich keine Zeitung und keine Fernsehstation mehr
erinnert. Einige Bewohner*innen Lampedusas sehen natürlich die Ähnlichkeiten
mit „der Jagd auf Migrant*innen“ im September 2011. Die Menschen sind die
falschen Versprechen leid und ebenso Menschen sterben zu sehen, darunter viele
junge und sehr junge Menschen, die für die legitime und hochheilige Frage nach
etwas Menschlichkeit bloßgestellt werden. Gleiches ist auch gestern in Trapani
passiert, wo 48 Migrant*innen gegen ihre Übersiedelung in ein anderes Zentrum
protestierten. Ihnen war zu Ohren gekommen, dass es dabei zu weiteren
Verzögerungen ihres unendlichen Asylverfahrens kommen könnte. ( http://siciliamigranti.blogspot.it/2015/12/protestano-per-trasferimento-migranti.html)
Ein geeignetes
Ambiente für ausländerfeindliche, rassistische und faschistische Kräfte, die
sich (dank der nationalen und internationalen Politik) erneut mobilisieren: in
Palermo werden Flugblätter gegen die Öffnung neuer Zentren verteilt, aus Angst
sie würden das Territorium ruinieren; in Alcamo werden zwei unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge, die in einem hochspezialisierten Zentrum wohnen angefahren, als
sie gegen die beschämenden bürokratischen Verspätungen der öffentlichen
Verwaltung protestieren; in Caltanissetta verhindert die Polizei die
Lynchjustiz der Migrant*innen, da einer von ihnen, sozusagen ein Alteingesessener,
ein Mädchen belästigt haben soll, in Agrigento beschweren sich die Bürger über
die massive Präsenz von Migrant*innen am Bahnhof (http://www.lamicodelpopolo.it/primo-piano/item/1602-emergenza-migranti-servono-coperte-e-avvocati.html#.Vo1yrDZq7R1)
und in anderen kleinen Dörfern können die Migranten die Zentren wegen
Beschimpfungen der Bevölkerung nicht verlassen.
Das alles ist vom
Staat gewollt, er hat seinen Sündenbock gefunden, der nun von all dem ablenkt
was er macht, oder was er nicht macht. Das Resultat: Der Staat schafft so immer
mehr Armut und er sät Hass unter der Bevölkerung.
Bleibt nur zu
hoffen, dass wir uns irren. Faruk ist inzwischen in einem Zug und flüchtet vor
dem Wort „Ende“, das wir ihm auf die Fersen gelegt haben.
Alberto Biondo
Veröffentlich von Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner