Das Versagen des Hotspots auf Lampedusa: Straßenproteste mit Forderungen nach Transparenz und Würde
In den vergangenen Wochen hatten wir bereits mehrfach die desaströse Lage des Hotspots im Viertel Imbriacola auf Lampedusa angeprangert. Grund für die menschenunwürdigen Zustände sind die sich auf unbestimmte Zeit hinziehenden bürokratischen Vorgänge, die die Verteilung der Migrant*innen auf den Rest Italiens verlangsamen. Die Bewohner*innen des Hotspots erhalten keinerlei Informationen, und es mangelt an grundlegenden hygienischen Vorrichtungen, sowie an regelmäßiger und außergewöhnlicher Wartung des zerfallenden Gebäudes, das chronisch überfüllt ist. Die dort untergebrachten Menschen werden sich selbst überlassen.
Diese Zustände haben ein weiteres Mal den Protest betroffenen Migrant*innen entfacht. Diese fordern die Einhaltung eines Mindestmaßes an rechtlichen Informationen und wollen auf die Verstöße gegen ihre Menschenwürde aufmerksam machen. Seit einigen Tagen werden diese von verschiedenen Gruppen fortgeführt – Ägypter*innen sowie südsaharische Afrikaner*innen, alle auf ihre eigene Weise und entsprechend ihrer Kultur: manche protestieren schweigend und gehen in den Hungerstreik, andere erheben deutlich ihre Stimme gegen den Staat, der sie gefangen hält.
Gestern kam es zum Höhepunkt der Demonstrationen, als am Morgen eine Gruppe von circa 30 Personen aus Eritrea, Äthiopien, Jemen, Somalia und Sudan, den Platz von der Kirche San Gelando besetzt haben.
Mehrere Frauen, unter ihnen auch eine Schwangere, Männer und einige unbegleitete Minderjährige haben gemeinsam eine Pressemitteilung verfasst, die von freiwilligen Helfer*innen und Aktivist*innen vor Ort, unter anderem den Verein Askavusa, übersetzt wurde. Darin prangern sie an, dass sie auf Lampedusa ohne Grund in untauglichen Heimen gefangen gehalten werden. Sie äußerten das Bedürfnis weiter zu reisen, um endlich an ihren Zielorten zu gelangen.
Genau das scheint auf Lampedusa aber unmöglich zu sein. Vielmehr wird hier klar, dass die europäische Migrationsolitik versagt hat, den Geflüchteten höchstens Hindernisse in den Weg legt und den Zugang zum Verfahren für den Schutzantrag versperrt. In diesen Stunden spitzt sich der Jahre alte Konflikt zwischen den Inselbewohner*innen und den Migrant*innen in Anbetracht des Beginns der touristischen Hochsaison immer mehr zu. Gestern Abend brannte bereits ein Auto. Obwohl dem vermutlich ein Streit der Einheimischen zu Grunde lag, wurde es als Akt des Vandalismus der protestierenden Migrant*innen verurteilt.
Diese klaren Bekundungen von Unduldsamkeit werden mehr oder weniger stillgeschwiegen. Dies spielt wiederum einem Europa in die Hände, das sich immer weniger menschlich zeigt und die Militarisierung der Gebiete rund um das Mittelmeer klar ins Auge fasst. Von offizieller Seite wird die Anwesenheit des Militärs jede Saison aufs Neue damit gerechtfertigt, dass eine „außergewöhnliche Situation“ vorliege. Tatsächlich aber wird Lampedusa verschandelt, die Insel verwahrlost unter den Augen ihrer Bewohner*innen, im Namen von „Kontrolle und Sicherheit“.
Es ist nicht das erste Mal auf Lampedusa, dass Intoleranz offen zu Tage tritt – obwohl auf demselben Stückchen Erde Gastfreundschaft gegenüber Bedürftigen ohne Wenn und Aber gelebt wird. Das Pfarramt von Lampedusa öffnete am Nachmittag seine Türen, als es plötzlich stark anfing zu regnen und die Demonstrierenden Schutz suchten. Gemeinsam erwartete man Kardinal Montenegro der gegen Abend eintraf und den Einwohner*innen Mut zusprach. Auch kamen viele Einwohner*innen Lampedusas, ausgestattet mit Decken und anderen Hilfsmitteln, um den Aufenthalt der Demonstrant*innen wenigstens für den Abend angenehmer zu gestalten. Die Nacht verbrachten die Demonstrant*innen auf dem Bordstein, unter ihnen auch die schwangere Frau. Die Tore der Kirche wurden am Abend geschlossen und erst am Morgen wieder geöffnet.
Die zahlreichen gestrigen Versuche seitens der Ordnungskräfte, der Hotspotbetreiber und einiger Vertreter*innen humanitärer Organisationen, die Demonstrierenden wieder in die Hotspots zu bewegen, scheiterten. Die Migrant*innen ließen sich nicht beirren und haben vor, bis auf Weiteres zu bleiben. Der Regen mache ihnen keine Angst, schließlich seien sie über das Meer gekommen und hätten dem Tod ins Auge geblickt.
Nur die Freiwilligen und die Aktivist*innen stehen mit den Demonstrant*innen in Kontakt. Diese werden für ihre Solidarität zunehmend von der Polizeipräsenz auf dem Platz eingeschüchtert und nach ihren Papieren gefragt und nach den Gründe für ihren Aufenthalt auf dem Platz. Es sind Aktivist*innen und Freiwillige, die die wichtige Aufgabe der Mediation und der Unterstützung übernehmen, für die vielen Migrant*innen die über die Insel nach Italien kommen. Genau deshalb sind sie den staatlichen Streitkräften ein Dorn im Auge.
Die Demonstrant*innen haben nicht vor mit den Vertreter*innen von Save the Children oder vom UN-Flüchtlingskommissariat zu sprechen, weil sie diese als Teil des Systems sehen, das sie gefangen hält. Einige Repräsentant*innen dieser Vereinigungen waren am Nachmittag zum besetzten Platz gekommen, um Informationen zu bürokratischen Vorgängen in Italiens Verwaltung zu liefern. Es besteht der Verdacht, dass solche Informationen bislang noch nicht in den Hotspot gelangt waren.
Die Migrant*innen sind sich darüber bewusst, dass ihnen ihre Rechte verwehrt werden, und dass sich dahinter eine Geschäft versteckt, von dem die UN in Kenntnisse ist und das sogar Gesetze und Grenzen rechtfertigt, die rassistisch, ja mörderisch sind. Sie haben es an eigener Haut erlebt und an vielen anderen gesehen, die auf der Flucht vor dem Tod, dem Hunger und dem Krieg in ihren Ländern sind oder bereits im Meer ertrunken.
Am späten Nachmittag kamen weitere maghrebinische Geflüchtete an, die während der Demonstrationen auf der Piazza im Lager ihren Unmut kundtaten. Erst blieben sie für sich, dann kamen sie zu den Anderen dazu, sodass die Anzahl der Protestierenden auf 60 stieg.
Trotz der Umverteilung in andere Aufnahmelager in den letzten drei Tagen leben bis zum heutigen Tage 600 Menschen im Hotspot von Imbriacola, ohne Unterscheidung nach dem Geschlecht. Unter ihnen sind Migrant*innen, die ohne ersichtlichen Grund seit bis zu drei Monaten auf der Insel verweilen, obwohl sie das Erfassen ihrer Personendaten längst hinter sich gebracht haben, einschließlich der digitalen Fingerabdrücke.
Die digitalen Fingerabdrücke stellen einen weiteren Streitpunkt dar: manche Migrant*innen denunzieren die Anwendung von Gewalt und psychischen Druck bei der Abnahme der Fingerabdrücke jener, die sich weigern, diese zwecks Identifikation abzugeben. Vielen ist es gelungen, sich diesen Maßnahmen zu entziehen, und sie haben nicht vor, aufzugeben.
Gestern Nachmittag hat die Polizei plötzlich, in einem Versuch zur Beilegung des Streits, allen Demonstrant*innen versprochen, sie ab Montag nach Sizilien zu verlegen. Selbst jene, die noch keine digitalen Fingerabdrücke abgegeben haben.
Das Versagen war absehbar, die Verantwortlichkeit hierfür liegt auf der Hand. All diese Maßnahmen werden auf Lampedusa unternommen, und das nicht zufällig und nicht ohne Grund. Die Migrant*innen werden von naher Entfernung beobachtet, doch sie werden nicht gezwungen, in den Hotspot zurückzugehen, denn sie können die Insel nicht verlassen. Man wartet ab, bis sie jeden Tag kraftloser werden, um ihnen dann mit neuen Beugemitteln zu begegnen.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Maggiore