Das Schweigen über Lampedusa. Die Schande von Agrigent
Allwöchentlich
landen auf Lampedusa kleinere Boote an mit 15-20 Personen an Bord. Sie kommen
aus Libyen oder Tunesien. Am 23. November sind in Lampedusa 130 Migranten von
Bord gegangen. Weder die Zeitungen noch das Fernsehen berichten darüber. Warum?
Den Grund
dafür vermuten wir (nach dem neuerlichen Durchlesen der «Road Map», den Strategien
für die Migrationspolitik) im Druck, den die Europäische Union auf die
italienische Regierung ausübt. Die Politiker überlassen die Umsetzung und Durchführung
der Aufnahmeverfahren dem Ermessen der jeweiligen italienischen oder
europäischen Polizeiorgane und das ohne juristische Rechtmässigkeit und
Zuständigkeit. Dieses Vorgehen ist unrechtmässig und ungesetzlich, denn es hat
unmenschliche und entwürdigende Behandlung der Person zur Folge.
Wir beginnen auf Lampedusa: im dortigen «Hotspot» werden
«Voridentifizierungen» durchgeführt durch die Polizei und das in Zusammenarbeit
mit den Funktionären von Frontex, die nunmehr fest auf der Insel stationiert sind.
Die Migrant*innen, mit denen wir in Palermo, Agrigent und Catania gesprochen
haben, berichten, dass sie lediglich nach ihrem Namen, ihrem Geburtsdatum und
ihrer Nationalität gefragt wurden. Über den Grund ihrer Flucht nach Italien, ob
sie Asyl beantragen, ob sie in ihr Heimatland zurückkehren können, wurden sie
nicht befragt. Aber, vor allem wurden sie nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben,
über ihre Rechte in Kenntnis gesetzt.
Unmittelbar
nach ihrer Ankunft werden die Migrant*innen aufgeteilt: auf der einen Seite die
möglichen Asylbewerber*innen (wir vermuten auf Grund ihrer Nationalität) und auf
der andern die, welche als «Kanonenfutter» betrachtet werden. Die ersteren
werden im Empfangszentrum der Insel zur rechtmässigen Identifikation mit Foto
registriert. Die anderen werden sofort weiter transferiert: mit der Fähre nach
Porto Empedocle, mit dem Flugzeug nach Rom, Palermo und Catania und das
aufgrund ihrer Nationalität. Die Menschen aus Nigeria werden nach Rom ins das CIE** Ponte Galeria (solange dort Platz ist) gebracht. Die aus dem Maghreb, vor allem
die aus Tunesien, werden nach Palermo geflogen. Vom Flugplatz Falcone
Borsellino werden sie direkt in ihre Heimatländer zurückgeführt. Die Migranten
aus Ägypten werden für ihre Repatriierung nach Catania gebracht.
Wenn die Asylbewerber*innen
sich weigern, sich ihre Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, geraten sie in einen
Machtkampf mit den Ordnungskräften, der in den letzten Monaten während der
Experimentierphasen in den neu eröffneten «Hotspots» immer wieder zu
Hungerstreiks unter den Asylbewerber*innen geführt hat.
Aber es
geht um mehr. Diejenigen Asylbewerber*innen, die seit letztem Monat auf Anordnung
der Territorialkommission in Agrigent festgehalten werden, weil sie als nicht
schutzwürdig befunden wurden, haben eine Ausweisungsverfügung erhalten. Das ist
ungesetzlich und im Fall eines minderjährigen Nigerianers absurd. Denn die
Motivation für seine Ausweisungsverfügung war, dass er in kürze volljährig wird
und als solcher ausgewiesen werden wird. Wir schliessen daraus, dass dieses
Vorgehen gegenüber der Minderjährigen systematisch angewendet wird.
Zudem sind
Migrant*innen verschiedener Nationen, aus dem Senegal, aus Mali, Nigeria,
Gambia, Pakistan und Afghanistan in den letzten Wochen mit einem Ablehnungsentscheid
der Territorialkommission konfrontiert worden. Das wäre nichts Aussergewöhnliches.
Aber – laut der italienischen Verfassung
– muss jemand, dessen oder deren Antrag auf internationalen Schutz als
Flüchtling noch nicht abgelehnt worden ist, als Asylbewerber*in mit all den
damit verbundenen Rechten (auch seinem/ihrem Recht auf Klage gegen den
negativen Entscheid) behandelt werden.
Aber weil
der menschlichen Phantasie keine Grenzen gesetzt sind (und in der Provinz Agrigent
machen sie wahrlich davon Gebrauch) stellt die Polizeibehörde der «Stadt der
Tempel» die Ausweisungsverfügungen aus, bevor der Ausgang der Anhörung vor der
Kommission bekannt ist.
Wer also
weder in einem CIE** noch in einem Flugzeug Platz findet, jedoch auch keine
Möglichkeit hat, sich frei zu bewegen, landet auf der Strasse. Von den
gesetzeswidrigen Kollektiventscheiden sind auch Schwangere, Minderjährige, potenzielle
Asylbewerber und besonders Schutzbedürftige (in ihrer Gesundheit gefährdete
Personen) betroffen.
Italien ist
in erster Linie damit beschäftigt, den Terrorismus zu bekämpfen. Darüber hinaus
begegnet das Land der Migration mit illegalen und schadenverursachenden
Vorkehrungen, die sich auf das öffentliche Leben auswirken: Hunderte von
Personen werden auf die Strasse gesetzt, ohne einen Schlafplatz, ohne
Verpflegung, ohne einen Euro in der Tasche um Grundbedürfnisse zu stillen, ohne
Kenntnis der italienischen Sprache und ihrer Rechte und Pflichten in diesem
Land und ausgeschlossen vom legitimen Recht ihrer Verteidigung.
Es sind
hunderte von Menschen aus Nigeria, Gambia, Pakistan, Mali, Senegal. Sie kommen aus
kriegsbetroffenen, benachteiligten Ländern, wo diktatorische Regierungen oder
Krieg und Chaos herrschen. Diese blutigen Regime werden aus ökonomischem
Interesse vom O gestützt, denn aus dem Fortdauern der Instabilität in jenen
Teilen der Welt zieht der Westen Gewinn.
Etwas
stimmt da nicht. Dann ist es also nicht unsere Absicht, die Menschen zu
empfangen, die Lebensgeschichte jeder einzelnen Person, die in Freiheit Leben
will in Betracht zu ziehen. Stattdessen mauern wir uns ein in Stereotype, die
in Italien und Europa Initiativen schüren, die von faschistischem und
neonazistischem Gedankengut inspiriert sind. Die Folge davon ist, dass
Menschenhändler und skrupellosen Arbeitgeber genau davon profitieren.
Vor ein
paar Tagen haben wir mit A. gesprochen, ein früh gealtert scheinender Mann, der
uns mit Feingefühl und Bescheidenheit über seine Erfahrungen berichtet: «Ich
bin ein Mensch, der alle Hoffnung verloren hat. Ich bin zerstört. Man hat mir
berichtet, dass ich in Italien frei sein, dass ich Arbeit suchen könne um meine
fünf Kinder zu ernähren, die ich zuhause zurückgelassen habe. Stattdessen bin
ich hier mit der Polizei konfrontiert, die mich nicht anhört. Es wird mir nur
gesagt, dass ich kein Asyl beantragen kann, dass ich nach Rom muss, um in mein
Land zurückzukehren. Warum helft ihr Menschen in Schwierigkeiten nicht? Ich bin
nicht schlecht, ich bin 56 Jahre alt und kann meine Familie nicht ernähren,
weil mein Land zerstört und voller Gewalt ist und weil es keine Arbeit gibt.
Was würdest du an meiner Stelle tun? Wenn du Kinder hast, was wärest du bereit
zu tun, wenn dein Kind dich um ein Stück Brot bittet, weil es Hunger hat? Ich
habe mehrmals mein Leben und das meiner Familie riskiert, die auf mich zählt
als Ernährer. Ich bin ein zerstörter Mann. Italien ist viel schlimmer als das,
was ich auf meiner Reise erlebt habe, schlimmer als die erlittene Gewalt. Denn
als sie mich geschlagen und bestohlen haben, blieb mir die Hoffnung auf
Italien, die mir Kraft gab. Stattdessen sagt ihr mir, dass ich nach Hause muss.
Wie kann ich nun meinen Kindern begegnen?»
A. ein 56
Jahre alter Mann, der uns wie ein 80 Jähriger erscheint, der vom Schmerz
zerstört ist, das lesen wir in seinen Augen. Seine zerbrechlichen Glieder
stecken in einem Trainingsanzug unter einer Decke. Wir sind ihm vor dem
Polizeipräsidium in Palermo begegnet zusammen mit anderen Leidensgefährten, mit
dem Bescheid der Zurückweisung in der Hand und der Hoffnungslosigkeit im
Herzen.
A. wird (wie
viele seiner Leidensgenossen auch von den anderen Polizeiquästuren Siziliens) zurückgewiesen.
Die Migranten aus Lampedusa bekommen in Agrigent oder sogar schon auf der Fähre
nach Porto Empedocle den verzögerten Abschiebungsverweis, wie wir schon in
früheren Artikeln dargelegt haben. Sie werden oft in ländlichen unbewohnten
Gebieten zurückgelassen, von wo aus sie sich alleine durchschlagen müssen «um
dem inneren und äusseren Tod zu entrinnen und wegen seiner Kinder», wie A.
erzählt.
Bevor wir
uns verabschieden bittet uns A. seine Familie benachrichtigen zu können, dass
er heil in Italien angekommen sei, weil ihm das bis jetzt nicht ermöglicht
wurde.
Auch zum
Tode Verurteilte haben das Anrecht auf ein Telefongespräch. Aber hier handelt
es sich um Pakistaner, Nigerianer*innen, um Personen der Kategorie B, die
offenbar noch weniger wert sind!
Das gleiche
Schicksal ist auch drei jungen Männern aus Gambia widerfahren, denen wir letzte
Woche begegnet sind. Auch sie sind in Lampedusa gelandet, wo sie sofort von den
Mitreisenden aus Somalia getrennt wurden. Mit andern 15 Migranten erhielten sie
auf der Fähre nach Porto Empedocle die Rückweisungsverfügung. Auch sie wurden
nicht befragt zu ihren Migrationsgründen, sie mussten nur den Namen und vor
allem ihre Nationalität angeben. In Porto Empedocle wurden sie ihrem Schicksal
überlassen. Einige von ihnen haben sich über die Numero Verde mit dem ARCI* in Verbindung gesetzt, andere mit
Organisationen, die vor Ort erreichbar waren, um eine Unterkunft zu finden.
Andere sind sofort weitergereist.
Diese Leute
aus Gambia werden von einem ehrenamtlichen Anwalt betreut, der bei der
Polizeibehörde von Agrigent für sie den Antrag auf internationalen Schutz
einreichen wird. Aber zuvor brauchen sie eine Erstversorgung – in Palermo
angekommen in vom Regen durchnässten Kleidern und nach rauhen Nächten auf der
Strasse. Die Stadt Palermo hat keine Einrichtungen für die Aufnahme der
unsichtbaren und gar nicht existierenden Abgeschobenen im Aufnahmesystem des
italienischen Staates.
Und das
Schweigen über Lampedusa wird immer ohrenbetäubender – voller Schmerz und
rechtswidrig!
Alberto
Biondo
Borderline
Sicilia Onlus
*L’ARCI
– Associazione Ricreativa e Culturale Italiana: Vereinigung zur Förderung
von Kultur, Bildung, Frieden, Menschenrechte, und Wohlfahrt
**CIE
– Centro di Identificazione ed Espulsione: Abschiebungshaft
Übersetzung
aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne