Das einzige Ziel ist die Geldmacherei. Die Nebenwirkung ist das Töten
Die europäischen Staaten führen immer noch eine Kampagne der Kriminalisierung von NGOs, die Menschenleben im Meer retten. Denn die NGOs wollen sich den Richtlinien einer EU nicht anpassen, die für das jahrelange Massensterben verantwortlich ist. Sie hat das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt, wie es dies noch nie gegeben hat. Auch wirtschaftlich sind die NGOs von der EU abgekoppelt, manche von ihnen wollen die schmutzigen Gelder erst gar nicht.
Ihre einzige Mission ist es, Menschenleben zu retten und das Geschehen im Meer anzuprangern: Ein Meer, das bis heute leblose Körper von Schiffsbrüchigen heranspült, die niemand sehen will. Die Mitarbeiter*innen der NGOs bergen diese Körper und werden Zeug*innen von tagtäglichen Massakern, die der Westen zu verantworten hat und der beschlossen hat, Frauen, Kinder und Männer ohne jegliche Reue zu töten. Dabei geht es um die Jagd auf noch mehr Reichtum einer Elite, die erbarmungslos und machthungrig ist.
Die Unmenschlichkeit dieser Zeiten macht uns zu Kompliz*innen eines endlosen Massakers; die einzigen Stimmen, die sich erheben, um diesen Zustand anzuzeigen, werden systematisch zum Schweigen gebracht und kriminalisiert, auch dank korrupter und gefälliger Medien.
Das einzige Ziel des Systems ist es, dass niemand von den Toten erfährt und auch nicht von den neuen Sklaven, von den Gewalttaten, den intelligenten Bomben „Made in the Western World“, die tagtäglich wehrlose Menschen umbringen.
So entzieht man denjenigen die Freiheit, die sich aufmachen, um die Wahrheit aufzudecken und zu erzählen. So wie im Fall von Gabriele Del Grande: Dieser wollte über die vielen Syrer*innen berichten, die wie Sklaven in der Türkei festgehalten werden, ermöglicht durch das kriminelle Abkommen zwischen Europa und der Türkei des Despoten Erdogan. Das gleiche kriminelle Abkommen unterhält Italien mit Libyen und würde gerne weitere Abkommen mit anderen afrikanischen Staaten schließen.
In solch einem Kontext werden die schwächsten Individuen zum Sündenbock für alles Leid und Böse in der Gesellschaft erklärt. Als Beispiel sei S. genannt, ein junger Marokkaner, der bereits einige Zeit in Palermo wohnt und der gegen seinen Willen berühmt geworden ist. Er steht für eine Regierung, die sich mit den Schwachen stark zeigt und gegenüber starken Mächten schwach ist. S. ist ein junger Mann, mit einer psychischen Pathologie, der eine Behandlung benötigt. Er ist Student an der Universität und Freiwilliger in einigen Organisationen, über die Jahre hat er starke Bindungen zur palermitanischen Gesellschaft aufgebaut. Vor einigen Tagen war er in den Schlagzeilen: Ihm wurde weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Toten schon lange nicht mehr, die aus dem Meer „gefischt“ werden. Als Reaktion hat die Regierung ihn in ein Abschiebezentrum* eingesperrt. Die Abschiebung wird derzeit von sehr vielen Freunden und Aktivist*innen aufgehalten, die diese schandvolle Tat eines kriminellen Staates laut anprangern, einem Staat, der dazu fähig ist, einen nachgewiesen psychisch kranken jungen Mann wegzuschicken.
In diesem Klima entsteht das Dekret Minniti-Orlando, das uns in eine Zeit zurückführt, die den dunklen Jahren in unserem Land gleichen.
Aus unseren Wörterbüchern ist das Wort “Mensch” bereits verschwunden, um den Statistiken und kalten Zahlen den Raum zu überlassen. Sie machen aus den Menschen eine anonyme Masse, ohne Gesicht und Name, ohne die Last der täglichen Entscheidungen zu spüren: So tötet man die Menschen nicht, sondern wischt lediglich Zahlen von einer Tafel weg!
Menschen im Meer sterben zu lassen ist nicht bloß eine Entscheidung, sondern eine Bedingung, um weiter Geld zu machen und Lobbys zu finanzieren, die mit der Unterstützung Europas mit Menschenleben spielen. Man denke nur an das Rennen um Investitionen, die den Kontinent in eine unbezwingbare Festung verwandeln. Als Erste in diesem Rennen stehen Banken und große Organisationen, die sich an der Sicherheit bereichert haben und unaufhaltsam immer reicher werden. Ein Paradebeispiel sei genannt: Frontex hat seinen jährlichen Umsatz von 6,2 Millionen auf über 300 gesteigert; auch die nicht weniger berühmte EMSA (Behörde zur Kontrolle des Meeres) oder die zahlreichen Projekte zur Überwachung mit Drohnen, allen voran die italienische Firma Leonardo (ehemals Finmeccanica), die von Europa finanziert werden. Der Umsatz für die Forschung zur europäischen Sicherheit, bei der auch die bekannten Lobbys involviert sind, ist von 6,5 Millionen auf 1,7 Milliarden gestiegen.
Es ist leicht nachzuvollziehen, inwieweit diese kalten Zahlen bewirken, dass über eine Gefahr der Invasion über das Meer gesprochen werden kann. So wird es zur Normalität, dass 1100 Personen im Hotspot Lampedusas (700 Personen mehr, als das Fassungsvermögen eigentlich zulässt) nicht mehr zählen als Ware, die man frei hin- und her bewegt. So ist es auch normal, 600 Personen fünf Stunden lang in einem Frachtschiff warten zu lassen, damit zuerst ein Kreuzfahrtschiff in Palermo anlandet, denn die Tourist*innen zahlen und haben Priorität vor den gefährlichen Invasoren.
Es wird zur Normalität, dass eine Person für fünf Jahre in einem CAS* in irgendeiner Provinz „geparkt“ wird und dort auf eine Antwort auf den legitimen Asylantrag wartet. Es scheint unglaublich, aber manche*r Berufungskläger*in verbringt fünf Jahre im CAS*, als Geisel einer blinden Politik. Viele beteiligte Einrichtungen zeigen die Anwesenheit von Migrant*innen an, die bereits im Jahr 2013 ankamen. Deren Fälle wurden vom Gericht auf April 2018 vertagt. Eine schlechte Politik raubt ihnen auf diese Art fünf Jahre, ist unwillig zu planen und lässt die Verarmten und für unsere Gesellschaft Unentbehrlichen in der Vorhölle der Erpressbarkeit verharren.
Es wird zur Normalität, sehr viele Minderjährige länger als ein Jahr in Erstaufnahmezentren zu behalten: Die Konsequenz ist, dass viele volljährig werden und in Einrichtungen für Minderjährige zu Geiseln werden, ohne bürokratische Fortschritte machen zu können. In einigen Fällen setzt sie die Einrichtungen vor die Tür, weil sie für die Volljährigen keine Mittel mehr erhalten und sie auf ihnen lasten. Es wird zur Normalität, zahlreiche nigerianische Frauen auf den Straßen auszubeuten und nachdem wir ihnen alles genommen haben – auch die Seele – sie in Abschiebehaft nach Ponte Galeria zu bringen, um sie von dort aus mit einem unauslöschlichen Zeichen auf der Haut zurückzuschicken. Opfer von Menschenhandel, Opfer von Gewalt, Opfer einer verlorenen Menschlichkeit, die keine Werte mehr kennt.
Migration hat es schon immer gegeben, aber nie wie in dieser aktuellen historischen Lage wurde diese Alltagsrealität derart von einem erbarmungslosen Business dominiert. Ein Business, in dem nur die Geldmacherei zählt und der Tod (der anderen) nur eine Nebenwirkung ist, die man im Beipackzettel des herrschenden Systems wiederfindet. Die NGOs, die Aktivist*innen und die Menschen, die diese Politik des Todes ablehnen, sie werden stets mit allen Mitteln gegen den Status Quo handeln. Denn das Leben ist zu wichtig und dessen Schutz ist ein unveräußerliches Recht, das jeder von uns im Inneren spürt. So wie wir nach der Freilassung von Gabriele gerufen haben, wie für die Migrant*innen, denen wir auf der Straße begegnen und den zahlreichen Verzweifelten, die uns um Hilfe bitten, so werden wir uns auch auf die gleiche Weise weiter für S. einsetzen, ohne müde zu werden, weil wir wollen, dass er befreit wird.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CIE/*CPR: Abschiebungshaft/ dauerhafte Abschiebungszentren
*CAS: außerordentliches Aufnahmezentrum
Aus dem Italienischen übersetzt von Maria Gambino