Bericht aus Lampedusa
Da ich keinen Zutritt zum Zentrum hatte, versuchte ich mit meinen wenigen Berichten Lampedusa von Außen zu beschreiben, in dem ich mehrere Stimmen sammelte. Dabei heraus gekommen ist keine Anklage, sondern eine Sammlung verschiedener Blickwinkel und die Stimme der vielen Akteure dieses Choralwerks „Lampedusa“.
Ich hoffe, dass auch die Stimme der an den Rettungsaktionen beteiligten Sicherheitskräfte dazu beiträgt, ein vollständigeres Bild des komplexen Systems von Lampedusa zu zeichnen, in dem die Institutionen viele Gesichter haben und auf verschiedene Aufgaben reagieren. Im Folgenden ist das Ergebnis der Interviews mit zwei jungen Angehörigen der Küstenwache und einem Leutnant der Zollfahndung. Da ich keine offizielle Erlaubnis habe, kann ich keine Namen nennen.
Interview mit jungen Angehörigen der Küstenwache:
Junger Mann aus Sardinien: Es war meine Entscheidung, nach Lampedusa zu kommen. Ich hatte im Fernsehen die Landungen gesehen und wollte mich nützlich machen. Ich hab es geschafft, versetzt zu werden. Es ist eine sehr intensive Erfahrung der Menschlichkeit. Sie verändert dich. Viele ankommenden Einwanderer stammen aus Kriegsgebieten und suchen die Freiheit. Es ist aufregend, dabei zu sein. Du erlebst unglaubliche Szenen. Stellen Sie sich vor, einmal wollte sich ein junger Mann, bevor er an Land ging, noch die Zähne putzen. Die Zahnbürste war das Letzte, was ihm geblieben war, das Einzige, was er mitnehmen konnte. Das Trinkwasser, das wir ihm gegeben haben, hat er verwendet, um seine Zähne zu putzen. Es war, als wolle er sich auf das neue Leben vorbereiten, das er erwartete, mit so viel Würde, wie es ihm gerade möglich war.
Junger Mann aus Apulien:
Sie haben mich hierher beordert, aber ich wusste, was mich erwartete. Du machst hier unglaubliche Dinge, brichst um 19.00 Uhr auf und hast keine Ahnung, wann du zurück kommst, vielleicht wirst du bis zur folgenden Nacht auf bleiben. Wir haben äußerst anstrengende Schichten, aber wenn du dabei bist, denkst du nicht an die Müdigkeit. Ich verstehe nicht, was uns die Kraft gibt, wahrscheinlich die Tatsache, dass du jemandem hilfst, dass du Leben rettest. Ich glaube, dass diese Möglichkeit zu helfen, ein Privileg ist.
Interview mit einem Leutnant der Zollfahndung an Bord eines Patrouillenboots.
Ich kam nach Lampedusa in einer Zeit, als es keine Landungen auf der Insel gab. Deshalb waren wir äußerst wenige Einsatzkräfte: Vielleicht waren wir nicht einmal zu zehnt auf der Insel. Am 8. Juli sahen wir 14 Boote ankommen. Das war eine unglaubliche Überraschung, all diese Menschen zu sehen. Die erste Nacht haben wir sie in allen Räumen untergebracht, die auf der Insel zur Verfügung standen, weil das Zentrum nicht geöffnet wurde. Dann sind weitere gekommen und es gab keine Plätze mehr und es klappte nicht mehr mit den Unterbringungen. Ich musste allein 400 Tunesier bewachen. Ich wusste nicht, wer sie waren. Sie sagten, sie seien aus dem Gefängnis geflohen. Ich habe wer weiß was durchgestanden in diesen Tagen an Verzweiflung und Angst. Aber nichts geschah. Dann wurde das Zentrum geöffnet und die illegalen Einwanderer konnten in diesen Tagen raus und rein, aber währenddessen landeten immer mehr Boote an. Am Ende waren 8000 Ausländer da. Die Essensausgabe war unglaublich: an der Mole war eine riesige Schlange, die auf Makkaroni wartete. Es gab Leute, die Dankbarkeit zeigten, andere, die eher arrogant waren, vor allem unter den Tunesiern. Die aus der Sub-Sahara sind anders. Sie sind sehr nett und freundlich und haben unglaubliche Geschichten erlebt. Ich sah Menschen, die ankamen mit Striemen auf dem Körper aufgrund der Folter. Einige hatten die Wüste zu Fuß durchquert und dann sind sie an Bord gegangen, ohne zu wissen, dass man auf dem Meer zu Tode kommt. Es ist schlimm, weil du manchmal siehst, dass sie, kaum dass sie ins Wasser fallen, versinken, weil sie das Meer nicht kennen. Sie sind oft etwas naiv. Es gibt beängstigende Szenen. Wenn du sie untergehen siehst, ist es wirklich beängstigend. Die Tunesier sind besser mit dem Wasser vertraut und auch die Schmuggler sind fähiger, weil sie sehr oft Fischer sind. Wer dagegen aus Libyen mit einem Gelegenheits-Schmuggler kommt, der sich oftmals verfährt ist dann oftmals sehr viele Tage auf See und wer weiß, wie viele wir nicht geschafft haben abzufangen.
Auch wenn es jetzt besser geht, weil die NATO-Schiffe in der Nähe Libyens uns Boote melden, bereits wenn sie sich 90 Meilen vor der Küste befinden, so dass wir dem Kurs besser folgen und mehr retten können. Mit der Zeit haben wir eine immer bessere Arbeitsweise entwickelt, die uns ermöglicht, mit mehr Gelassenheit, Kontrolle und Schnelligkeit zu arbeiten.
Gibt es Treffen, bei denen Ihr Euch über das Vorgehen austauscht oder Fehler besprecht? Wir haben keine formellen Treffen, aber faktisch reden wir über nichts anderes. Stellen Sie sich vor: Seitdem ich hier bin, habe ich es nicht geschafft, über ein Fußballspiel zu reden, über eine Frau oder etwas anderes, was aufmuntert. Wir sprechen praktisch ausschließlich über die Arbeit, doch das ermöglicht uns, die Vorgehensweisen immer mehr zu verfeinern. Was mich ärgert ist, dass wegen der Journalisten die Flüchtlinge keine Menschen mehr sind, sondern Zahlen. Weder sie noch die Landungen sind mehr von Interesse. Manchmal übertreiben sie die Fakten und ansonsten suchen sie nach der kuriosen Nachricht. Stellen Sie sich vor, als das Schaf ankam, erhielt ich eine Flut von Anrufen von Journalisten.
Haben Sie schon einmal an einer Abschiebung teilgenommen? Gott sei Dank nicht. Gut, dass sie das nicht mehr machen. Daran zu denken, dass du diese Leute die du rettest, Männer aber auch Frauen und Kinder, in die Hände der libyschen Polizei gibst, die sie zu Hunderten in eine Art von Coca-Cola-LKWs verfrachtet … Gut, dass sie das nicht mehr machen. Ich weiß, dass einige Kollegen, als sie den Befehl bekommen sollten, das Funkgerät ausgeschaltet haben, und so getan haben, als ob sie es nicht hörten oder dass es kaputt war. Wenn du dich in den Armen eines dieser Kinder wiederfindest, die gerade aus dem Meer gerettet wurden, dann verstehst du gar nichts mehr. Ich habe einmal ein Kind genommen und einem Polizeichef auf den Arm gegeben, und ich sah, dass dieser 60-jährige wie verzaubert wurde, nichts mehr verstand. Du denkst sicher „es könnte mein Sohn sein“. Nachdem du die Flüchtlinge geborgen hast, musst du manchmal auch Witze machen können, um ihre Angst zu vertreiben, die Verunsicherung. Denken Sie an ihren Zustand, sind völlig verwirrt: Sie kommen nach tagelangem Herumtreiben auf dem Meer, wo alles dunkel ist, an. Dann kommen wir, bringen sie zum Kai, wo alles hell erleuchtet ist, und da sind viele Leute, die ihnen helfen wollen, die ihnen die Hand halten. Manchmal machen mich diese humanitären Organisationen wütend, sie sind grundsätzlich für Nächstenliebe und machen ihre Arbeit gut, aber wenn sie, koste es, was es wolle, die Ersten sein wollen, die dem, der ankommt, die Hand schütteln, dann bringen sie Alles durcheinander am Kai und riskieren, die Operationen zu behindern. Ich weiß nicht, woran ich während der Operationen denke, vielleicht denke ich: Hoffen wir, dass alles gut geht. Dann selbstverständlich gibt dir einer etwas zurück, den du nicht kennst, von dem du nicht weißt, woher er kommt, und der sich bei dir mit einem Blick bedankt. Hier sind alle Arten von Menschen angekommen, Menschen in Rollstühlen, viele Blinde, Schwangere, winzige Kinder, etliche Arschlöcher, einer kam mit einer Gitarre.Was waren deine beeindruckendsten Erfahrungen? Der 8. Mai.
Am 8. Mai waren wir gerade fertig mit der Anlandung von 800 Personen, als sie uns anrufen und sagen, dass ein großes Boot aus Malta zurückkäme. Alle Hilfskräfte standen bereit, aber die Ruderkette riss und dadurch verlor das Boot die Kontrolle und drohte, an den Klippen zu zerschellen. Wir hörten die Schreie hinter dem Hügel und haben angefangen zu rennen. Die Leute fingen an, ins Wasser zu springen, zum Glück hatte ich Timberland-Stiefel und welche vom Militär hatten Kampfstiefel. Aber wer nicht die richtigen Schuhe hatte, verletzte sich, noch bevor er ins Wasser springen konnte. Das erste, was wir abbekamen, waren ein gebrochenes Schienbein und Wadenbein. Dann warfen uns vom Boot aus die Eltern die Kinder zu und wir warfen sie denen an Land zu, als wären sie Bälle. Aber es ist normal, dass du das tust. Du springst instinktiv ins Wasser und greifst dir so viele Menschen wie möglich. Alle, die dort waren, taten, was sie konnten. Dann sprang ich instinktiv hinein, aber ich wusste, ich konnte auf einen Carabiniere oder Polizisten hinter mir zählen, der mir helfen würde. Es vergingen drei Stunden und ich glaubte, es seien zwei Minuten gewesen (ich hatte Fieber, aber nicht erzählen!). In so einem Moment denkst du an nichts. Doch am Ende bringt man unglaubliche Dinge zustande. Stell dir vor, mir ist eine schwangere Frau hingefallen, die vielleicht 150 Kilo wog, und ein Kollege hat mich mit der einen Hand wieder aufgerichtet und die Frau mit der anderen. Das Traurigste ist, dass wir danach drei Leichen fanden: zwei Ertrunkene und einen, der starb, weil er auf den Felsen zerschmettert wurde. Er hatte überall Knochenbrüche. Wir sind vom Staatspräsidenten ausgezeichnet worden, er war ebenfalls gerührt. Aber ich denke: Wer auch immer das getan hätte, hätte nicht anders handeln können.
Über die Einwohner von Lampedusa: Die Einwohner von Lampedusa sind seltsam. Du weißt, dass sie sich niemals mit den illegalen Einwanderer angelegt haben, selbst in den Momenten höchster Anspannung nicht. Einmal hatten sie eine Barriere aus Booten gemacht, damit niemand mehr in den Hafen hinein gelangen konnte. Doch wir mussten ein großes Schiff anlegen lassen, das gerade gerettet worden war, voller Menschen, die eine tagelange Irrfahrt hinter sich hatten. Die Demonstranten haben sich unterstanden, sie nicht durchzulassen und ließen sie anlegen. Aber dann haben sie sich mit mir und den anderen Einsatzkräften angelegt und sagten, wir dürften nicht mehr dahin gehen zum Retten. Sie legen sich nicht mit den Illegalen an, sie sind wütend auf die Journalisten, auf die Regierung, sogar auf uns, aber nie auf die Fremden. (In diesem Fall fand der Sündenbock-Mechanismus keine Anwendung.) Einmal sagten sie zu einer Reporterin von Kanal 5, die Reportagen verfasste, die ihnen nicht gefielen, weil in ihnen darauf beharrt wurde, dass sich auf Lampedusa eine Katastrophe ereigne. Sie sagten ihr: „Sie sind hier nicht willkommen, weil sie nicht die Wahrheit sagen.“
Merkwürdiges auf Lampedusa:Hier siehst du Dinge, die sonst nirgends geschehen. Zwischen unterschiedlichen Einsatzkräften gibt es normalerweise viel Rivalität. Hier dagegen arbeitet man mit einer außergewöhnlichen Synergie. Die Mitarbeiter der Zollfahndung helfen der Küstenwache, wenn sie bei einem schwierigen Einsatz ist, und sie tun dies auch über ihre Zuständigkeiten und Dienstzeiten hinaus. Und dann am nächsten Tag geschieht es umgekehrt. Hier leisten alle ihren Beitrag und engagieren sich. Du weißt, wenn du hinein springst, steht jemand hinter dir, um dich zu unterstützen. Es herrscht Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Korps, was du nicht bei den Gipfeltreffen oder außerhalb von hier finden kannst. Und dann gibt es Demut, du verstehst, dass du bescheiden sein musst, denn du bist auf alle angewiesen, du kannst nichts allein bewirken. Wahre Freundschaften schließt du in schwierigen Zeiten. Wir befinden uns alle in einer ernsten und schwierigen Zeit und es sind echte Bindungen und eine außergewöhnliche Arbeitsharmonie geschaffen worden. Hier war die Situation tragisch. Ich zum Beispiel dachte: Hoffen wir, dass kein junger Tunesier eine Dummheit mit einer jungen Frau anstellt, weil es ein Vorwand dafür hätte werden können, einen Mordskrach auszulösen. Aber zum Glück ist nichts passiert, und alle konnten die Kontrolle über sich behalten. Die Einwohner Lampedusas waren unglaublich. Stell dir vor, sie wurden gerufen, weil einige Einwanderer ein Schaf gestohlen hatten. Wir fragten den Besitzer, ob er Anzeige erstatten wolle, und er sagte nein und fügte hinzu: „Das Schaf war eine Spende“.
Sie sind auch ins Haus von Claudio Baglioni eingestiegen, aber er stellte fest, dass mit Ausnahme von ein paar Flaschen Wein nichts gestohlen wurde, sie suchten nur einen Unterschlupf. Auch der Sänger erstattete keine Anzeige und sagte: „Ich hoffe zumindest, dass ihnen der Wein geschmeckt hat, und dass sie auf meine Gesundheit angestoßen haben“.
Du bist sehr jung (26 Jahre). Wie schaffst du es, so viele Menschen unter dir und Situationen von solcher Verantwortung zu managen? Ich habe begriffen, dass die beste Art, Anführer zu sein, die ist, mit gutem Beispiel voran zu gehen. Wenn du in schwierigen Situationen zunächst hinein springst, dann folgen dir die anderen hinterher. Und außerdem muss es dir gelingen, das Beste aus den Menschen herauszuholen. Außerdem: Es hilft, jung zu sein, weil du riskantere Dinge tust. Du hast keine Bandscheibenprobleme und musst dich deshalb nicht am Rand halten. Zum Beispiel waren da neulich Flüchtlinge auf dem Meer, die Wellen waren riesig. Die Jungs haben nicht zweimal überlegt, sind aufs Schlauchboot und sie haben sich ins Wasser gestürzt, um die Schiffbrüchigen rauszuholen. Es war großartig. Der Wagemut und das Vertrauen der Menschen helfen unter solchen Umständen.
Clelia Bartoli